Logo
Aktuell Soziales

Besuch in einer besonderen Betzinger WG

In Betzingen leben Senioren mit Pflegebedarf gemeinsam unter einem Dach. Ein Wohnmodell der Zukunft?

In der Betzinger Heppstraße gibt es eine KBF-Wohngemeinschaft, in der Pflegebedürftige zusammenleben.  ARCHIV-FOTO: PIETH
In der Betzinger Heppstraße gibt es eine KBF-Wohngemeinschaft, in der Pflegebedürftige zusammenleben. Foto: Frank Pieth
In der Betzinger Heppstraße gibt es eine KBF-Wohngemeinschaft, in der Pflegebedürftige zusammenleben.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN-BETZINGEN. Das Haus sieht von außen eher schmucklos aus. Doch im Inneren ist die Stimmung an diesem Morgen gut. Gleich am Ortseingang von Betzingen befindet sich eine Wohngemeinschaft (WG), in der zwölf Senioren mit Pflegebedarf zusammen leben. In einer Wohnform, die man sie sonst eher von Studenten kennt.

Das Morgenlicht scheint in die Küche und die ersten Personen sammeln sich zum Frühstück an den Tischen, andere essen im Bett. Weitere Bewohner schauen sich das Morgenprogramm im Fernsehen an. Im Zimmer liegen noch Kegel und verschiedene Spiele aus zurückliegenden Gemeinschaftsabenden. Eine Pflegerin leistet einer alleinsitzenden Dame Gesellschaft, ein Senior wird auf dem Weg zu seinem Zimmer informiert, dass sein Zahnarzttermin verschoben wurde.

»Ich weiß morgens nie, was auf mich zukommt«

Die Wohngemeinschaft in Betzingen wurde 2020 eröffnet, weitere Wohngemeinschaften der Körperbehindertenförderung (KBF) befinden sich in Pfrondorf und Rottenburg. Es gibt nur zwölf Plätze in Betzingen – und deshalb eine Warteliste. Empfiehlt der Pflegedienst eine Verlegung vom betreuten Wohnen der KBF in die Wohngemeinschaft, haben diese Personen Vorrang. WGs sieht die Einrichtungsleiterin Veronika Kemmler als elementaren Bestandteil der Pflege der Zukunft.

Für Kemmler ist der Pflegeberuf eine Herzensangelegenheit. »Ich weiß morgens nie, was auf mich zukommt«, sagt sie über die abwechslungsreichen Tagesverläufe. Die Größe der WG ermöglicht eine individuelle Betreuung, welche die Bewohner selbst mitgestalten können, wie sie sagt. Allerlei Menschen mit Pflegebedarf können hier leben, die meisten von ihnen haben Demenz. Es sei ihnen selbst überlassen, wann sie aufstehen, oder an welcher Aktivität sie teilnehmen möchten. Vorschriften wie eine Schlafenszeit gebe es nicht. »Demente Personen sind oft nachtaktiv, die unterhalten sich dann gerne mal mit der Nachtschicht«, erzählt Kemmler.

Das Gemeinschaftsgefühl der Bewohner erfreut Veronika Kemmler. »Es hat mich überrascht, wie sehr sich die Leute umeinander kümmern. Da schauen sie mal, ob der Nebensitzer heute weniger isst und fragen dann, was los ist«, erzählt die Einrichtungsleiterin. Sie freut sich vor allem über den respektvollen Umgang der Bewohner miteinander, zu kleinen Streitigkeiten kann es »wie überall im Leben« auch mal kommen, nachtragend sei aber niemand. 

Auch Senioren mit Pflegebedarf – hier ein Symbolbild – können sich gegenseitig (unter)stützen. FOTO: THISSEN/DPA
Auch Senioren mit Pflegebedarf – hier ein Symbolbild – können sich gegenseitig (unter)stützen. FOTO: THISSEN/DPA
Auch Senioren mit Pflegebedarf – hier ein Symbolbild – können sich gegenseitig (unter)stützen. FOTO: THISSEN/DPA

Immer mehr Bewohner, die neu einziehen, haben Demenz. »Man sieht es den Leuten nicht an. Das sind teilweise die fittesten hier«, berichtet Veronika Kemmler. Eine völlig andere Betreuungsstrategie gebe es für diese Bewohner nicht. Besteht gerade große Laufbereitschaft, findet ein Spaziergang in Begleitung des Pflegepersonals statt, wirkt jemand einsam, wird er schnell wieder in die Gruppe integriert. Je nach Bedarf wird auch die WG an die Bedürfnisse der Menschen angepasst.

»Musik ist das beste bei der Behandlung von Demenz«

Die Einrichtungsleiterin spricht von einer ehemaligen Bewohnerin, die sich hin und wieder auf dem Weg zu ihrem Zimmer verirrte. Für diese Seniorin wurden Wegpfeile aufgeklebt, um ihr die Orientierung zu erleichtern. Eine Bewohnerin träumt nachts von ihrem Mann, der vor zwei Jahren verstarb. Wenn sie wach ist, erinnert sie sich nicht mehr an ihn. Nur das Pflegepersonal kann ihren Ehemann mit den Träumen in Verbindung bringen.

Die meisten Bewohner haben ihr Frühstück inzwischen gegessen, an dem Morgen, an dem der GEA zu Besuch ist. Im Gemeinschaftsraum ist es nun leiser geworden. Ein Bewohner sitzt noch vor dem Fernseher. Er berichtet stolz von den Pflanzen, die er aus dem naheliegenden Supermarkt mitgebracht und im Gemeinschaftsraum aufgestellt hat. Er schwärmt von den heranwachsenden Tulpen und erinnert sich an seine Ehefrau, die sich weniger für Pflanzen interessierte als er, aber dafür immer großartig gekocht habe. Vor Weihnachten grub er einen kleinen Tannenbaum aus und brachte ihn mit nach Hause in die WG, erzählt Veronika Kemmler und scherzt: »Irgendwann ist die Polizei da.«

Im Raum nebenan sitzt eine weitere Bewohnerin mit Demenz. Als sie angesprochen wird, kann sie kaum noch mit verständlichen Worten antworten. Die Einrichtungsleiterin beschreibt, wie diese Bewohnerin aber immer laut den ganzen Text bei alten Volksliedern mitsingen würde. »Musik ist das Beste bei der Demenzbehandlung«, sagt sie. In einem Raum steht ein Klavier, das eine Bewohnerin an Festtagen gerne spielt. Alle zwei Wochen leitet eine eingestellte Sozialpädagogin ein Gedächtnistraining, an dem jeder teilnehmen kann. Neben dem Lösen von Kreuzworträtseln wird hier auch Geschichtliches thematisiert. Für die dementen Bewohner sei es sehr wichtig, aktiv zu bleiben.

Veronika Kemmler leitet ein ganzes Team aus Pflegediensten und Präsenzkräften. Auch Menschen ohne Ausbildung gehören dazu und besuchen neben der Arbeitszeit Schulungen, um in der Wohngemeinschaft aushelfen zu können. »Die Personallage in der Pflege ist eng«, berichtet die Einrichtungsleiterin und wünscht sich, »dass Pflege-WGs in Zukunft finanziell wie Pflegeheime gefördert werden«. Nur so könnten Senioren mit Pflegebedarf weiterhin ein Leben in einem geschützten und familiären Raum mit angemessener Betreuung führen. (GEA)