REUTLINGEN. »Uns hat Corona getroffen wie eine Axt«, sagt Eva Sutter, Leiterin des Tagestreffs der Arbeiterwohlfahrt (AWO): Die Einrichtung, die Anlaufstelle und fast schon Familienersatz für Wohnungslose ist, musste dichtgemacht werden. Als Mitte Mai wegen erster Corona-Lockerungen wenigstens wieder ein Mittagstisch angeboten werden konnte, gab es beim Wiedersehen feuchte Augen, erzählt Sutter – bei den Stammgästen, die ihren Treff schmerzlich vermisst hatten, bei ihr und den Ehrenamtlichen aber auch. Mehr als ein Notbetrieb war wegen der Auflagen aber nicht drin. Eine neue Verordnung, die am 1. Juli in Kraft tritt, macht jetzt die Öffnung möglich. »Dann hauchen wir dem Treff wieder Leben ein«, strahlt Eva Sutter.
In den AWO-Tagestreff kommen Wohnungslose und andere sozial Benachteiligte. Um günstig Mittag zu essen. Zu duschen. Die Wäsche zu waschen. Sich, falls nötig, professionell beraten zu lassen. Vor allem aber: Um zusammenzusitzen, in Gesellschaft zu sein, zu erzählen. »Wir haben«, erzählt Eva Sutter, »gelacht, gestritten, gespielt – das hier ist eine sehr familiäre Einrichtung.« Und ein wichtiger Rückzugs- und Erholungsort für Menschen, die kaum Bindungen haben, extrem isoliert leben. Als Corona kam, musste ihr Refugium geschlossen werden – zum Schutz der Besucher, aber auch der Ehrenamtlichen, die zu 90 Prozent über 70 Jahre, also Risikogruppe sind. »Das hat alle schwer getroffen«, so Sutter.
Nur zwei Wochen brauchte das AWO-Team, um einen Lieferservice mit Lebensmittelpaketen für die Tagestreff-Besucher und Klienten des ambulant betreuten Wohnens zu organisieren. Duschen und Wäsche waschen im Tagestreff wurde wieder ermöglicht, allerdings nur nach Anmeldung. Eva Sutter blieb telefonisch in Kontakt mit »ihren« Besuchern. Telefonisch lief auch die Beratung – vielmehr ging nicht. »Die meisten haben die technische Ausstattung nicht, die man beispielsweise für Videotelefonie braucht.« Der Tagestreff, sagt sie, sei eine »sehr lebendige« Einrichtung. Als wegen des Lockdowns plötzlich Totenstille einkehrte, »war das ganz schlimm«.
Als am 18. Mai die Kontaktbeschränkungen gelockert wurden und die Gastronomie wieder starten durfte, konnte auch der AWO-Tagestreff den Betrieb wieder aufnehmen. Schmalspur, versteht sich. Die Tische in der engen »guten Stube« des Altstadthäuschens wurden auseinandergezogen. Platz für sechs Personen, mehr war nicht erlaubt. Was bedeutete: Warmes Mittagessen – wie üblich frisch gekocht – nur nach telefonischer oder Vor-Ort-Anmeldung, Aufteilung in drei Besucherschichten, Aufenthaltslimit eine Dreiviertelstunde. Immerhin konnte so eine »Minimalversorgung«, so Ulrich Högel, für 18 Personen gewährleistet werden. Vor Corona hielten sich an den Öffnungstagen 20 bis 30 Besucher im AWO-Tagestreff auf.
Das Zusammensitzen und der Kontakt, der den Besuchern so wichtig ist, fehlte aber. Gerade für das Klientel des Tagestreffs gebe es wenig Möglichkeiten der Teilhabe. »Die haben sehr darunter gelitten. Wir auch«, erzählt Eva Sutter. Und grinst. »Ein Stammgast hat sich sogar mit einer Zeitung auf der Toilette eingeschlossen.«
Doch zeichnet sich ein Silberstreif am Horizont ab. Die am vergangenen Dienstag bekannt gewordene Neufassung der Coronaverordnung, die am 1. Juli in Kraft tritt, erlaubt »Ansammlungen« bis zu 20 Personen. Abstandsregeln und Hygienevorschriften bleiben wie gehabt. »Das ermöglicht uns nahezu den Normalbetrieb. Darüber sind wir sehr froh«, sagt Ulrich Högel. Die Tagestreff-Türen stehen dann wieder von 12 bis 17 Uhr offen, es muss nicht mehr geklingelt werden. Die 1,5 Meter Abstand, meint Eva Sutter, »sind machbar«. Das Personal wird weiter Maske tragen, rot mit AWO-Logo. Für Besucher gibt’s genug Einwegmasken und Desinfektionsmittel. Den Ehrenamtlichen bleibt freigestellt, ob sie kommen wollen. »Auch junge Menschen, die sich engagieren möchten, sind willkommen«, sagt Högel. Spenden ebenfalls, denn die Mittel vom Landkreis und der Stadt reichen nicht aus. (GEA)