Weiß der Himmel, was die Dame vorhat. Gisela Wurster weiß es jedenfalls nicht. Deshalb hakt sie vorsichtshalber nach und klärt die Kundin freundlich aber bestimmt darüber auf, dass Pfefferspray nur im Falle eines wirklichen Notfalls zum Einsatz kommen darf; und dass man sich bei missbräuchlicher Benutzung der Körperverletzung schuldig macht. Die Kundin nickt, zahlt, versenkt das Büchsle in der Anoraktasche und geht. Die Presse staunt. Kommt so etwas öfters vor? »Na ja«, schmunzelt Gisela Wurster, »hier erlebt man schon die tollsten Sachen.«
»Manche Leute beginnen hier im Laden mit der Maniküre«
Mit »hier« ist die Messerschmiede Brucklacher in der Katharinenstraße 4 gemeint. Vielmehr: der Verkaufsraum derselben, in dem es mitunter gehörig menschelt. »Manche Leute«, erzählt Gisela Wurster, »kaufen bei uns eine Nagelschere und beginnen sofort, also direkt im Laden, mit der Maniküre« - übrigens ohne sich ihres gesellschaftlichen Fauxpas auch nur ansatzweise bewusst zu sein. »Die gucken dann ganz beleidigt, wenn ich ihnen sage, dass das ein bisschen zu weit geht.« Und sie rechtfertigen sich in aller Regel damit, dass sie ihre Neuerwerbung doch einer Funktionsprüfung unterziehen müssten.
Nun, an diesem Mittwochmorgen Schlag zehn Uhr stutzt sich niemand die Krallen. Die Türglocke bimmelt und eine Familie tritt an die Theke, während sich der Vorhang im hinteren Bereich des Ladens teilt und den Blick aufs Büro freigibt. Michael Wurster lugt heraus und winkt. Die Kaffeemaschine blubbert munter vor sich hin, auf dem Esstisch vis-à-vis der Fensterfront liegt ein alter GEA-Artikel. 1988 verfasst, dreht sich die Geschichte um Wursters inzwischen gestorbenen Vater Siegfried, der die Messerschmiede Brucklacher seinerseits vom Schwiegervater übernommen hatte.
»Billigware wird selbst bei sorgfältiger Überarbeitung sofort wieder stumpf«
»Wir waren und sind ein Familienbetrieb«, sagt der ausgebildete Werkzeugmachermeister, der erst 1994 ins Stahlwaren-Geschäft eingestiegen ist. Die Kunst des Messer- und Scherenschleifens hat er vom Vater gelernt. Als »Scherenschleifer« möchte er allerdings nicht bezeichnet werden. Denn in der Branche ist dieser Ausdruck verpönt, wird als despektierlich empfunden. »Ich bin Messerschmied«, stellt der 41-Jährige klar und grenzt sich damit betont von jenen Zeitgenossen ab, die klinkenputzend durch die Lande ziehen und ihre mehr oder weniger unseriösen Dienste zwischen Tür und Angel anbieten.
Erst neulich, hat Wurster im Polizei-Report gelesen, waren in Reutlingen wieder Scharlatane unterwegs. »Für das Schärfen von vier Scheren haben die einem Rentnerpaar atemberaubende 120 Euro abgeknöpft. Das ist doch nicht zu fassen!« Vor allem vor dem Hintergrund, dass »fahrende Dienstleister« meist gar nicht über das nötige Equipment verfügen, um Messer und anderes Schneidegerät wirklich fachgerecht zu behandeln. Oder anders ausgedrückt: Nur wer die richtigen Maschinen sein Eigen nennt und diese mit Sachverstand bedienen kann, wird gute und dauerhafte Ergebnisse erzielen.
Michael Wurster hat beides - sowohl die Fachkenntnis als auch das nötige Werkzeug. Letzteres befindet sich in der zwanzig Quadratmeter großen Werkstatt neben dem Büro und im darunter liegenden geräumigen Gewölbekeller, wohin der 41-Jährige all jene Arbeitsprozesse verlagert hat, die mit Schmutz verbunden sind: etwa das Schleifen und Polieren von Stahl. Oben wird (de-)montiert und gereinigt. Unten staubt's. So wie in diesem Moment, da der Reutlinger eine professionelle Schneiderschere in der Mache hat. Mit zirka 600 Umdrehungen pro Minute rotiert der Schleifstein, an den Wurster jetzt die Innenseite einer Klinge hält. Dabei ergießt sich ein Funkenregen auf den Boden. »Es gibt Kollegen, die ihre Hände deshalb mit Leder schützen. Aber ich mag das nicht. Mir fehlt dann das Fingerspitzengefühl«, erklärt der 41-Jährige, der sich längst an Brandblasen gewöhnt hat.
Er legt den fertig geschärften Stahl zur Seite. Hartes, qualitativ hochwertiges Material sei's, wie der Experte erläutert. »Metall mit hohem Kohlenstoffanteil«, was sich am starken Funkenaufkommen während des Schleifvorgangs gezeigt habe. Ganz anders die nächste Schere, die bei Berührung mit dem rotierenden Steinrad keine feurigen Akzente setzt. »Das liegt am Chrom«, weiß Michael Wurster.
Sieben Scheren pro Stunde schafft der Messerschmied im Durchschnitt; Polieren, Ölen und Montage inklusive. Doch es gibt auch zeitaufwendigere Schleifarbeiten. Darunter das Schärfen von Sägeblättern, wie sie in Brotschneidemaschinen zum Einsatz kommen. »Die haben es in sich« - weil jedes Zähnchen entlang des Scheibenrands einzeln und von Hand nachgeschliffen werden muss. Eine gewaltige Kugelfuhr! Wiewohl eine, die sich lohnt. Zumal sorgfältig geschliffene Sägeblätter ihre Schärfe über Jahre halten - so es sich um Qualitätsstahl und nicht um minderwertige Ware handelt.
»Es gibt Kollegen, die ihre Hände mit Leder schützen«
Diese weist der Fachmann übrigens konsequent zurück - zu seinem eigenen Besten und zum Besten der Kundschaft, wie er sagt. Denn Kosten und Nutzen sollten seiner Meinung nach in einem gesunden Verhältnis stehen. »Ich würde niemandem sechs Euro fünfzig fürs Schleifen berechnen, wenn ein Messer nur zwei Euro wert ist.« Hinzu komme der gute Ruf, der immer dann buchstäblich auf des Messers Schneide steht, wenn Billig-Artikel repariert werden sollen. »Die werden selbst bei sorgfältigster Überarbeitung sofort stumpf. Dann heißt es, «der hat gepfuscht».« Nein danke. Lieber ein Auftrag weniger und dafür zufriedene Kunden, als eine ruinierte Reputation und ein paar schnelle Euro.
Wer aber nutzt denn eigentlich den Schleifservice in der Katharinenstraße? Vor allem Vertreter der Textil- und Lederbranche, die Reutlinger und Tübinger Pathologie sowie Privatleute. Nicht zu vergessen »unsere Amerikaner«. Gemeint sind Reutlinger, die vor Jahrzehnten in die USA auswanderten und nun ihren »Heimaturlaub« in schöner Regelmäßigkeit mit einem Besüchle bei »Brucklacher« verbinden - um einzukaufen, aber auch um Scheren und Messer schleifen zu lassen. Kundentreue kennt offenbar keine Grenzen.
Davon abgesehen glaubt Gisela Wurster eine sich anbahnende Trendwende zu beobachten - weg vom Run auf Ramsch, hin zu mehr Qualität und zu ideellen Werten. Denn die Erbengeneration scheint mit ihrer Liebe fürs angestaubte Familiensilber ein Stück Tischkultur wiederentdeckt zu haben. Omas edles Besteck erlebt dieser Tage in etlichen Haushalten eine Renaissance.
Es wird gehegt und gepflegt und dem Fachmann zur Reparatur und Politur vorgelegt. So wie jener Bestecksatz, den Michael Wurster momentan zur Inspektion vorliegen hat. Eine Messerklinge ist gebrochen und muss komplett ersetzt werden, bei anderen fehlt's »nur« am nötigen Schliff. »Weiter kein Problem«, wie Wurster findet.
Es ist kurz nach elf. Genug geplaudert. Die Arbeit ruft und Ehefrau Gisela auch. Ein Kunde, lässt sie den Messerschmied wissen, ist am Telefon, und stellt sehr spezielle Fragen. Da muss der Fachmann ran. Noch ein kräftiger Händedruck und schon hat der 41-Jährige den Hörer am Ohr. »Hallo, hier Wurster. Was kann ich für Sie tun?« (GEA)

