Logo
Aktuell Justiz

Angeklagter Vater aus Reutlingen in Prozess um Vernachlässigung seines Sohns freigesprochen

Wegen gröblicher Verletzung der Fürsorgepflicht stand ein 42-Jähriger vor dem Reutlinger Amtsgericht. Die Urteilsfindung war kompliziert und langwierig. Sie endete mit einem Freispruch.

Vor dem Amtsgericht Reutlingen stand ein Vater wegen Vernachlässigung seines siebenjährigen Sohnes.
Vor dem Amtsgericht Reutlingen stand ein Vater wegen Vernachlässigung seines siebenjährigen Sohnes. Foto: Stephan Zenke
Vor dem Amtsgericht Reutlingen stand ein Vater wegen Vernachlässigung seines siebenjährigen Sohnes.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Über Jahre soll ein Vater seinen Sohn vernachlässigt haben: Kindergartenbesuche waren eher Ausnahme als Regel. Er förderte das Kind nicht, sorgte weder für eine ordnungsgemäße Hygiene noch Ernährung, so die Anklage der Staatsanwaltschaft. Die Folge seien Entwicklungsverzögerungen - sowohl körperlich als auch psychisch. Im August 2024 wurde der Siebenjährige vom Jugendamt in einer Wohngruppe untergebracht, der Vater musste sich wegen gröblicher Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht verantworten.

Drei Verhandlungstage benötigte das Schöffengericht unter dem Vorsitz von Richter Eberhard Hausch, bis es zu einem Urteil kam. Es war ein schwieriges Verfahren, da waren sich alle einig, angesiedelt im Grenzbereich zwischen Familien- und Strafrecht. Doch Richter Hausch betonte, dass es diesen Aufwand auf jeden Fall wert war - wenn es um das Wohl von Kindern gehe, müsse die Justiz genau hinschauen und aufpassen.

»Mit Liebe allein ist es nicht immer getan«

Der Angeklagte erschien an diesem dritten Verhandlungstag nicht vor Gericht - was in diesem Fall von den anderen Verfahrensbeteiligten eher begrüßt wurde. »Es geht ohne ihn vielleicht leichter«, so Hausch. Denn, auch da waren sich alle einig: »Der Angeklagte ist kein einfacher Charakter«, so Staatsanwalt Dr. Burkhard Werner. Er leide unter einer Persönlichkeitsstörung, misstraue Behörden, war jahrelang alkoholabhängig, hat etliche Vorstrafen und konsumiert regelmäßig Cannabis. Dieses erhält er auf Rezept. Ob der Grund dafür tatsächlich eine Krebserkrankung ist, wie er gegenüber einem Jugendamt-Mitarbeiter erklärte, blieb im Verfahren unbeantwortet.

Die Mutter des Kindes leidet unter einer schweren psychischen Erkrankung, kann sich nicht um den Sohn kümmern. Der Halbbruder wurde schon vor Längerem in Obhut gegeben. Der Angeklagte hingegen wollte sein Kind bei sich behalten und betonte am ersten Verhandlungstag auch, dass er ein guter Papa sei. Die Aussagen eines früheren Mitbewohners und des Vermieters, die ihn gegenüber der Polizei der Vernachlässigung bezichtigt hatten, blieben im Zeugenstand jedoch eher wage. Der Vermieter berichtete von lauter Musik und vielen Besuchern, die beim Angeklagten Alkohol und Drogen konsumiert haben sollen. Zudem sei es mit der Kindsmutter immer wieder zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen gekommen. Konkrete Vorfälle schilderte er aber kaum.

»Er versucht alles richtig zu machen, aber er bekommt es nicht immer hin«

Seit geraumer Zeit wurde die Familie von der Jugendhilfe unterstützt, auch das Jugendamt war immer wieder involviert. »Es war eine Gratwanderung«, sagte der zuständige Jugendhelfer vor Gericht aus, aber man wollte probieren, den Jungen beim Vater zu lassen. Der Angeklagte habe das Kind durchaus gut versorgt, sagte der Zeuge - auch wenn es noch Luft nach oben gegeben habe. Die Wohnung sei keineswegs vermüllt oder verdreckt gewesen. Eine Einschätzung, die auch Richter Hausch und seine Schöffen so bestätigen konnten, die den Angeklagten am ersten Verhandlungstag persönlich abgeholt hatten, weil er nicht erschienen war.

Die Beziehung zum Kind sei »sehr gut, fröhlich und herzlich« gewesen. Nachdem ihm der Sohn genommen worden war, haben er überreagiert und eine Flut von E-Mails losgelassen, bestätigte der Zeuge: »Wie Don Quichotte, der gegen die Windmühlen kämpft«. Die Mutter berichtete von Beleidigungen und Ausfälligkeiten ihr gegenüber. Beim Sohn habe er jedoch versucht, »alles richtig zu machen, aber er bekommt es nicht immer hin«. Er leide an einer Sozialphobie und sei antriebsschwach, seit Jahren arbeitslos. Warum der Vater denn heute nicht da sei, wollte sie von Richter Hausch wissen. »Das ist die Frage, die sich stellt«, erwiderte der.

Nach einem Umzug änderte sich die Zuständigkeit im Jugendamt, die neue Mitarbeiterin erstellte im Sommer 2024 ein Schutzkonzept, das unter anderem regelmäßige Kindergartenbesuche vorsah. Der Angeklagte hielt sich nicht daran, auch Termine mit einem Logopäden ließ er schleifen. Ob sie glaube, dass der Angeklagte seinen Sohn liebe, wollte der Richter von der Zeugin wissen. »Heiß und innig,« betont sie: »Aber mit Liebe allein ist es nicht immer getan«. Weshalb das Jugendamt beschlossen hat, den Jungen in einer Wohngruppe unterzubringen. Die Eltern stimmten dem jedoch nicht zu - und der Fall landete vor dem Familiengericht.

» Wir verurteilen keine Persönlichkeiten, sondern eine Tat«

Zum Strafprozess kam es durch Ermittlungen, die die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, weil es in einer anderen Verhandlung Hinweise auf Vernachlässigung gab. Ganz zum Schluss sagte der frühere Sachbearbeiter vom Jugendamt aus, der die Heftigkeit der Vorwürfe ebenfalls entkräftete. Die Situation sei nicht gut gewesen, »aber meine Einschätzung war nicht, dass man sofort handeln muss«.

Verteidigerin Safak Ott forderte in ihrem Plädoyer Freispruch. »Der Angeklagte ist eine schwierige Persönlichkeit«, räumte sie ein, »aber wir verurteilen keine Persönlichkeiten, sondern eine Tat«. Das Erziehungsverhalten wertete sie als durchaus »defizitär«. Das indes sei keine Straftat. Der Staatsanwalt sah dies anders und forderte acht Monate Haft auf Bewährung. Das Schöffengericht folgte dem Antrag der Verteidigung. »Er hätte mehr tun können«, so sah es auch Richter Hausch, aber eine gröbliche, massive Vernachlässigung bezweifelte das Gericht - und sprach den Angeklagten in Abwesenheit frei. (GEA)

Im Gerichtssaal

Richter: Eberhard Hausch, Schöffen: Frank Degner und Benjamin Maier, Staatsanwalt: Dr. Burkhard Werner, Verteidigerin: Safak Ott.