REUTLINGEN/ALBSTADT. Nun ist ein Knopf dran: Die Reutlinger Sammlerin Ursula Müller-Wiese hat ihre rund 800 Fingerhüte und andere Handarbeitsutensilien in eine Stiftung überführt. Und die dem Albstädter Nähmaschinenmuseum überschrieben.
Bereits im Januar war im GEA von der bemerkenswerten privaten Sammlung der 82-Jährigen zu lesen. Sie sorgte sich, was aus ihren im Lauf eines halben Lebens erworbenen historischen Nähaccessoires wird, wenn sie mal nicht mehr ist. Sie war bereit, ihre exquisiten Stücke in vertrauensvolle Hände abzugeben - ohne dabei auf pekuniären Gewinn zu hoffen. Der Gesamtwert der mehr als 1.000 zum Teil äußerst raren Gegenstände ist schwer zu schätzen und im Konvolut kaum zu bezahlen. Ihr Wunsch war, dass alles beieinanderbleibt. Und möglichst öffentlich zugänglich wird.
»Der Gründer war ein Visionär und bis heute sind Familienmitglieder die Gesellschafter«
Das hat geklappt. Eine tragende Rolle auf dem Weg zum Happy End kommt Petra Mey-Hauch zu. Die Tochter des 2002 verstorbenen Unternehmers und Sammlers Albrecht Mey aus Albstadt-Lautlingen lebt mit ihrem Mann in Reutlingen. Wie üblich hatte sie auch am Morgen des 14. Januar ihren GEA aufgeschlagen, und war auf den Bericht über Müller-Wieses Nähkästchen gestoßen, die so viel über die Geschichte der Handarbeiten in Europa und in aller Welt erzählen. Das wäre die ideale Ergänzung zum Erbe ihres Vaters, fand die Fachlehrerin für Textiles Werken.
So nahm noch am selben Nachmittag ihr Mann Wolfgang Hauch als ältestes Mitglied im Stiftungsrat des Nähmaschinenmuseums von Albrecht Mey über die Zeitungsredaktion Kontakt zur Reutlinger Fingerhut-Hüterin auf. Schon eine Woche später fuhr das Ehepaar Hauch mit ihr auf die idyllische Zollern-Alb, um den möglichen künftigen Standort für ihre Sammlung in Augenschein zu nehmen.
»Müller-Wieses fantastische Sammelobjekte boten eine einmalige Gelegenheit«
»Mitmenschlich hat das schon in den ersten fünf Minuten geklappt«, erzählte Ursula Müller-Wiese danach. »Der Gründer war ein Visionär und bis heute sind Familienmitglieder die Gesellschafter. Ich kann mir das gut vorstellen.« »Sie war von unserem Museum begeistert und konnte sich die Übertragung, Präsentation und Bewahrung ihrer Sammlung dort sehr gut vorstellen«, bestätigt Wolfgang Hauch. Auch sein Schwager Martin Mey vom Vorstand der 1998 gegründeten gemeinnützigen Stiftung »Nähmaschinen-Museum Sammlung Albrecht Mey« findet die Reutlinger Preziosen »eine ganz tolle Ergänzung«.
Schließlich stand schon die bisherige Präsentation von Meys rund 400 historischen Nähmaschinen aus aller Welt unter dem Motto »Am Anfang war die Nadel«. Ziel des Museums ist es, die Geschichte der textilen Fertigung nachzuzeichnen, und zwar von den ersten Vorläufern der Nähnadel aus gespaltenen Fischgräten und Dornen von 20.000 vor Christus an. Dank Müller-Wieses Zustiftung lässt sich nun auch die frühe Zeit des Kleidermachens, die handwerkliche Vorstufe maschineller Textilproduktion, dort »dauerhaft eindrucksvoll präsentieren«, freut sich Wolfgang Hauch: Ihre »fantastischen« Sammelobjekte und Unikate boten eine »einmalige Gelegenheit«. Martin Mey, der mit anderen Ehrenamtlichen durch die Ausstellung führt, sieht in der nun vollzogenen Erweiterung »eine faszinierende neue Perspektive auf die Geschichte und Kultur des textilen Handwerks«.

Im Verlauf des Kennenlernens festigte sich deshalb die Idee, Müller-Wieses Exponate samt der fünf maßgefertigten Stand- und zwei Wandvitrinen »als Vorgeschichte der Nähmaschine« in einer Nische direkt neben dem Eingang zum Museum zu platzieren. Inzwischen ist dafür eine historische Rundstrickmaschine ans andere Ende des hellen, barrierefrei zugänglichen Foyers im 1. Stock des Mey-Werksverkaufs umgezogen.

Die Gesellschafter und Geschäftsführer der Unternehmensgruppe gaben rasch Grünes Licht - und so wurden die kleinen, originellen Sammlerstücke aus dem Reutlinger Ringelbachgebiet am 9. April fachgerecht ins knapp 60 Kilometer entfernte Lautlingen transportiert.
»In der Karwoche haben dann Frau Müller-Wiese, Martin, Petra und ich mit unserem Sohn Patrick Hauch die Sammlung dokumentiert und die Präsentation aufgebaut«, erzählt Wolfgang Hauch. Zu guter Letzt hat er noch zwei Poster auf große Wandtafeln aufgezogen: Zwischen den Vitrinen sind nun der GEA-Artikel »Wenn das Nähkästchen plaudert« und das Motiv »Traum eines Fingerhuts« des Kölner Malers Bernhard Mertens zu sehen. Das Ergebnis der Zusammenführung wurde am 4. Mai in der 23. Sitzung des Stiftungsrats vorgestellt.

Vor einer Woche, am 6. Juni, haben Huchs, Meys und weitere Vertreter des 1928 gegründeten Familienunternehmens zusammen mit Ursula Müller-Wiese und ihrer Tochter Margarethe Müller sowie Repräsentanten der Stadt Albstadt auch der Öffentlichkeit die Museumserweiterung vorgestellt. Dadurch, dass sie an die Übergabe ihrer Sammlung nun einen Knopf darangemacht hat, fühlt sich die Reutlinger Stifterin »angekommen«. Wie von ihr erhofft, können nun rund 1.200 Besucher aus aller Welt, die jährlich den Weg ins »Nähmaschinenmuseum Sammlung Albrecht Mey« finden, ihre Schätze bewundern. Und so ihre Begeisterung für die grazilen Handarbeitsutensilien nachvollziehen, die »für unsere Großmütter als auch für Handwerker international über Jahrtausende unvermeidlich waren«.
»Vor 45 Jahren weckte ein kleiner Gegenstand, der in seiner Vielfalt grenzenlos ist, meine Sammelleidenschaft«
Als Tochter einer Schneidermeisterin wurde sie früh mit Nähen, Flicken, Gestalten vertraut, erklärte sie zur Eröffnung. Vor zirka 45 Jahren habe dann ihre Sammelleidenschaft begonnen - »für einen kleinen Gegenstand, der in seiner Vielfalt grenzenlos ist«. Der Fingerhut wurde wie die Nähnadel schon in frühchristlicher Zeit nachgewiesen. Müller-Wieses ältestes Exemplar stammt von 300 nach Christus und aus den heutigen Niederlanden. Seither diente das Utensil über Jahrtausende zum Gelderwerb und als Liebesgabe ebenso wie als Vitrinengegenstand und Mini-Litfasssäule. Denn die statt aus Bronze im Lauf der Jahrhunderte auch aus Aluminium, Elfenbein, Porzellan, Holz, Leder, Zink, Silber und Gold gefertigten Schutzkappen zieren nicht nur Edelsteine, sondern auch politische Slogans und Werbetexte.

Da sich ihr Interesse schließlich auf weiteres Handarbeitszeug ausdehnte, zeigen ihre Vitrinen nun auch zierliche Scheren, Näh-, Strick- und Häkelnadeln, Maßbänder und Ellenmaßstäbe. Dazu komplette Handarbeitsschatullen. Vom Notfallnecessaire in einer echten Walnussschale bis zum 30 Zentimeter hohen »Nähtempel« aus Ebenholz sind kleinste wie größere Exponate dabei: Nadelbüchsen, Stopfeier und Garnkugelhalter, Occhi-Schiffchen, handgefertigte Klöppelspitzen, bis hin zur liebevoll handverzierten Babyausstattung aus Großmutters Zeiten.
Da das vor sechs Jahren in Albstadt-Lautlingen eröffnete Museum, dessen Erlös der Kriegsgräberfürsorge gespendet wird, nur auf Anfrage öffnet, hat Ursula Müller-Wiese der Stiftung auch ihre Fachliteratur vermacht. So können die Museumsführer um Seniorchef Martin Mey nun auch bezüglich der Neuzugänge allerhand dazu erzählen und erklären. (GEA)
Wissenswertes zum Nähmaschinenmuseum
Das Nähmaschinenmuseum am Ortsrand von Albstadt-Lautlingen zeigt 300 der mehr als 420 Raritäten aus der Sammlung des Unterwäschefabrikanten Albrecht Mey (1920-2002).
Die beinhaltet etwa den originalgetreuen Nachbau einer Kettenstich-Nähmaschine von Thomas Saint, London, aus der Zeit um 1790, eine weitere von Balthasar Krems von 1800, Adam Opels erste Nähmaschine von 1863, die erste Pfaff von 1862, skurrile Handnähmaschinen aus den USA, die weltweit einzig erhaltene Doppelsteppstichmaschine »Lion« der Glasgower Brüder William und James Morton von 1902, die sich in einer Bronzestatue verbirgt, und zwei Exemplare der kleinsten funktionsfähigen Kinder-Nähmaschine »Liliput« von Heinrich Keller, Nürnberg, 1932.
Das 2009 eröffnete Museum mit der Sammlung Albrecht Mey und seit Juni 2025 auch mit der Fingerhut- und Nähzubehörsammlung von Ursula Müller-Wiese findet sich im selben Gebäude wie der Mey Werksverkauf (Mo-Fr 9-18 Uhr, Sa 9-16 Uhr) und das Café-Bistro »s' Albrecht« Auf Steingen 6 in 72459 Albstadt-Lautlingen. Durch einen Aufzug sind die Räume im 1. Stock behindertengerecht zugänglich.
Eintritt für Erwachsene kostet 3 Euro, für Gruppen pro Person zwei Euro, für Kinder, Schüler und Studenten ist er frei. Geöffnet wird nach telefonischer Vereinbarung unter (07431) 7060, nur in den Sommerferien, an Feiertagen und zu Betriebsurlaubszeiten bleibt das Museum zu. Führungen bieten Renate Stöckert, Walter Eyth und Martin Mey an. (dia)