REUTLINGEN. Ein denkbar schlechter Start in einen Gerichtsprozess: Zu Beginn der Verhandlung weiß selbst Pflichtverteidigerin Katrin Lingel nicht, wo sich ihr Mandant aufhält. Fünf Minuten später spaziert der 20-jährige Afghane in den Gerichtssaal – in Anzug und Krawatte.
Er soll laut Anklage eine Sozialpädagogin mehrmals bedroht haben. Zunächst habe der Afghane in einer Einrichtung gewohnt, in der diese auch tätig war. Sie schildert, dass der Mann jüngeren Kolleginnen gegenüber aggressiv aufgetreten sei und sich nichts sagen lassen wollte. Die Polizei wurde nach einigen Verhaltensauffälligkeiten alarmiert und habe ihn aus der Wohngruppe »entfernt«, so die 63-Jährige. Nach mehreren Vorfällen habe man ein Hausverbot ausgesprochen.
Eine Mitarbeiterin der Jugendhilfe bestätigt in ihrer Zeugenaussage, dass der Angeklagte »immer schon schwierig« gewesen sei. Er habe sich dann vor etwa zwei Jahren ohne die Einwilligung des Jugendamtes eine Wohnung in Reutlingen organisiert. Daraufhin übernahm die 63-Jährige seine Betreuung. Sie war es auch, die sein Geld verwaltet hat. Die Auszahlungen haben zu heftigen Konflikten geführt. Hat der Angeklagte sein Geld nicht wie gewünscht erhalten, habe er sich auf den Boden geworfen und sei in Tränen ausgebrochen.
Drohungen per Sprachnotiz
Im Februar konnte sie ihm einen Termin nicht zeitnah gewähren – der Angeklagte habe ihr dann mit verzerrter Stimme eine Sprachnotiz hinterlassen: »Ich komme heute Nacht und zünde Dein Auto an«. Anschließend legte er eine Textnachricht nach: »Ich bringe Dich um, wenn ich Dich in Reutlingen sehe«. Die Zeugin gab zudem an, er könne einfach »nicht mit seinem Leben umgehen«. Aus den psychiatrischen Kliniken habe er sich vor der Behandlung teilweise selbst entlassen.
Im Gerichtssaal
Richter: Sierk Hamann; Staatsanwältin: Isabell Mühlenbruch; Verteidigerin: Katrin Lingel
Im Oktober soll er dann wieder aggressiv geworden sein und ein Messer gegen einen Mitarbeiter des Jugendamtes gerichtet haben. Drei Tage später soll er Morddrohungen an Mitarbeitende der Jugendhilfe ausgesprochen haben. Die Opfer nahmen die Aussagen des Tatverdächtigen ernst, so Staatsanwältin Isabell Mühlenbruch. Laut seiner Anwältin könne sich der Angeklagte an keine konkrete Morddrohung erinnern.
Psychische Probleme
Aus den Gutachten, die dem Gericht vorliegen, geht hervor, dass der Afghane psychische Probleme habe, die schon seit Jahren bestehen. Er sei »körperlich stabil«, aber »psychisch schwankend«, stellte Hamann fest, allerdings seien die Akten »fragmentarisch«. Gesichert ist, dass zwei Schulversuche scheiterten, er keine Krankheitseinsicht hat und mehrere psychiatrische Aufenthalte hinter sich brachte. Letztlich musste die Verhandlung vertagt werden, da die Aktenlage zu unklar war.
»Ich komme heute Nacht und zünde dein Auto an«
Der Richter gehe nicht von einer ernsthaften Gefahr aus, aber ein »Restrisiko« bleibe bestehen. Hamann verwies auf die schwierigen Lebensumstände in Afghanist und seinen Fluchtweg. »Sie sind mir schon wichtig«, sprach er ihn direkt an.
Drohung: Handschellen klicken
Zum Schluss wurde der Tonfall dann doch rauer. Der Afghane sei wohl bei vielen Gutachtern gewesen, weigert sich aber jenen aufzusuchen, der vom Gericht bestimmt wurde. Hamann mahnte ihn daraufhin, dass das Gutachten nicht freiwillig sei: »Das Einzige, was sie vor einer Saalverhaftung schützt ist, dass sie der erste dieses Jahr sind, der mit einer Krawatte hier sitzt«, sprach Hamann deutliche Worte in Richtung des Angeklagten. »Wenn Sie nicht zu meinem Gutachter gehen, dann klicken die Handschellen«. Der Angeklagte reagierte uneinsichtig: Er gehe nur zu einem Gutachter, wenn man ihm einen Job beschaffe.
Die Verhandlung wurde auf den 3. Juli vertagt. Er solle »keinen Scheiß machen bis dahin«, so Hamann. Der Angeklagte zeigte wenig Verständnis für die Vertagung. Hamann drohte ihm mit einer Fahndung, sollte er nicht mehr auftauchen.
»Sie können auch nach Afghanistan reisen, wenn Sie mögen«, so Hamann. Eine Rückkehr in sein Heimatland möchte der Angeklagte aber laut seiner Anwältin unter keinen Umständen. Nachdem der Richter die Verhandlung geschlossen hatte, wollte der Angeklagte weiterverhandeln und kündigte an: »Nächstes Mal nicht kommen.« (GEA)