REUTLINGEN. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, freute sich Josef Szajowski, denn »das war eine Verlängerung der Sommerferien«. Doch diese Freude wurde schnell von Schrecken abgelöst. »Wir haben auf einer Wiese gespielt, gleich daneben waren Bahngleise und ein Fluss«, erinnert sich der heute 103-Jährige. Es war September 1939, er war damals 17 Jahre alt und lebte bei seinem Großvater in einer kleinen Gemeinde, rund 100 Kilometer von Lemberg, heute Lwiv, entfernt. Damals Polen, heute Ukraine. »Dann kamen die deutschen Flieger und haben Bomben geworfen. Wir haben versucht uns irgendwie zu verstecken, aber das ging nicht. Wir wurden fast verrückt vor Angst.«
Josef Szajowski ist der zweitälteste Reutlinger. Bewundernswert fit, geistig wie körperlich. Noch mit 96 Jahren hat er sich mit GEA-Redakteurin Ulrike Glage im Tennis duelliert. Mails, Handy, Onlinebanking: Der Mann ist technisch auf dem Stand der Zeit. Und hat noch viele Erinnerungen an sein bewegtes Leben.
»Irgendwie hatten wir die Hoffnung, dass Hitler nicht mit Polen anfängt«
»Die Stimmung in Polen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war sehr angespannt. Wir hatten Angst vor Deutschland. Aber wir hatten ja auch die politischen Garantien zum Beistand von Frankreich und England«, erzählt der 103-Jährige. »Irgendwie hatten wir die Hoffnung, dass Hitler nicht mit Polen anfängt.« Die polnische Regierung versuchte in dieser Zeit die verunsicherte Bevölkerung patriotisch zu motivieren, Plakate mit dem Slogan »Stark, geschlossen, bereit« wurden aufgehängt.
Doch Szajowskis Hoffnung zerschlug sich: Am 1. September 1939 startete der Blitzkrieg von Nazi-Deutschland gegen Polen, das angegriffene Land bekam keine Hilfe. Die Beistandspartner erklärten Nazi-Deutschland zwar den Krieg, leisteten aber keine Hilfe. Sie hatten Angst vor einer Eskalation, wie im Ersten Weltkrieg, und sie konnten militärisch auch einfach nicht schnell genug reagieren. Als auf Grundlage des Hitler-Stalin-Pakts auch noch die Sowjetunion von Osten her einmarschierte, war das Schicksal Polens endgültig besiegelt. Es war geteilt - und Josef Szajowski lebte zunächst im russisch besetzten Gebiet.
»Als wir die Russen gesehen haben, haben wir uns zunächst gewundert. Sie sahen schlecht aus, im Vergleich zu den Polen«, erinnert er sich. Ärmlich, wie er sagt. »Sie haben gesagt, dass sie kommen, um der polnischen Nation zu helfen. Doch als sie den polnischen Polizisten die Waffen abgenommen haben, wussten wir: Da stimmt was nicht ...« Die Repressionen begannen. Gegen Militär- oder Polizeiangehörige, gegen Intellektuelle, bekannte und einflussreiche Polen. »Die Russen haben angefangen, Menschen nach Sibirien zu verschleppen.« Wer Stalin und seinem Regime gefährlich erschien, lebte von nun an auch gefährlich.
»Die Menschen, die Angst vor Deportation hatten, haben zuhause schon Brotdosen gepackt«
1940 und 1941 gab es vier große Deportationswellen. Nach den jüngsten Schätzungen des Polnischen Instituts für Nationales Gedenken (IPN) wurden rund 330.000 Personen verschleppt, es gibt aber auch deutlich höhere Schätzungen. »Die Menschen, die Angst vor Deportation hatten, haben zuhause schon Brotdosen gepackt«, berichtet der 103-Jährige. »Dass sie, wenn sie verschleppt werden, wenigstens Essen für die Reise haben.« Josef Szajowski musste in der Schule Russisch lernen.
Am 22. Juni 1941 wurde der damals 19-jährige Zeuge eines weiteren Wendepunkts im Zweiten Weltkrieg: Hitler brach den Pakt mit Stalin und griff die polnischen Gebiete unter russischer Besatzung an. »Morgens um 6 oder 7 Uhr war ich wach. Ich habe gehört, wie Soldaten marschieren. Als ich aus dem Fenster geschaut habe, sah ich die Deutschen«, erinnert er sich. »Die sahen ganz anders aus als alle Soldaten, die ich bisher gesehen hatte. Es war Sommer, sie hatten die Ärmel ihrer Hemden hochgewickelt. Als ob kein Krieg wäre.« Die Juden wurden nun in Ghettos zusammengepfercht, sieben Kilometer von Szajowskis Heimatgemeinde war auch eins.
»Die Deutschen hatten die ganze Klasse geschnappt«
Und dann wurde der junge Mann 1942 als Zwangsarbeiter verschleppt. »Einfach von der Straße weg« habe ihn die Polizei mitgenommen, erzählt er. »Ich durfte nichts mehr von zu Hause holen.« Der damals 20-Jährige kam in ein Zwangsarbeiterlager nach Potsdam, arbeitete zunächst als Hilfsarbeiter in der Fabrik der Arado Flugwerke GmbH. Durch Zufall lernte er weitere Polen kennen, »eine ganz Klasse vom technischen Gymnasium in Krakau. Die Deutschen hatten die ganze Klasse geschnappt«. Die Polen schafften es, dass Szajowski mit ihnen als technischer Zeichner arbeiten durfte - obwohl er eigentlich keine Ahnung davon hatte. Das brachte ihm Privilegien. »Wir wurden von den Deutschen gebraucht. Wir wurden nicht schikaniert.«
Zunächst bekamen die Zwangsarbeiter noch Lebensmittelmarken. »Ich weiß noch, wie wir gemogelt haben«, sagt der 103-Jährige. Mit einer Kerze beschmierten die jungen Männer die Marken, die im Laden abgestempelt wurden. »Und mit einer Rasierklinge haben wir die Stempel dann wieder entfernt.« Wenn die jungen Polen das Barackenlager verließen, mussten sie ein »P« für »Polen« an ihrer Kleidung tragen. Manchmal entfernten sie den Buchstaben, wenn sie in die Stadt gingen. Einmal wurden sie von einem Polizisten ertappt. »Er hat uns direkt angehalten und nach dem P gefragt. Mein Freund sagte: Aber es ist ja Sonntag ... Dafür bekam er eine Ohrfeige - und wir mussten wieder ins Lager.«
»Dafür bekam er eine Ohrfeige - und wir mussten wieder ins Lager«
Nachdem Nazi-Propagandaminister Goebbels 1943 den »Totalen Krieg« ausgerufen hatte, wurde das ganze Büro, in dem Szajowski arbeitete, nach Schlesien verlegt - nach Landeshut. »Rund 400 Meter von uns entfernt hat man irgendwann ein Außenlager des KZ Groß-Rosen gebaut«, erinnert sich der 103-Jährige. Seine Stimme wird bei dieser Erinnerung leiser. »Dort haben wir KZ-Häftlinge gesehen. Das war schrecklich. Wie sie stundenlang im Regen stehen mussten ... oder wie sie nach der Arbeit ihre Toten auf einem Hand-Karren wieder mit ins Lager gebracht haben.« Beim KZ arbeitete auch die Organisation Todt, eine paramilitärisch organisierte Bau-Organisation des NS-Regimes, zuständig für die Errichtung von Brücken, Straßen, Befestigungen und Lagern. »Ich habe den Meister gefragt: Was denken Sie passiert, wenn diese Leute mal freikommen? Er hat geantwortet: Die kommen nie frei, das sind Verbrecher.«
Die Russen standen zu diesem Zeitpunkt schon bei Breslau, rund 100 Kilometer entfernt. »Dann wurde unser Büro wieder verlegt, nach Brandenburg«, schildert der 103-Jährige. Doch es herrschte schon Chaos. »Die konnten keinen gemeinsamen Transport mehr für uns organisieren«, erinnert sich Szajowski. »Also haben wir jeweils einen individuellen Marschbefehl bekommen. Es war ein Durcheinander.« Auf dem Weg nach Brandenburg kamen die jungen Polen im Februar 1945 an Dresden vorbei. »Das war einen Tag nach den großen Bombenangriffen. Man konnte die Brände noch riechen.«
»Man konnte die Brände noch riechen«
In Brandenburg wurde er dann nahezu täglich Zeuge von Luftangriffen auf Berlin. Dann beschloss er, gemeinsam mit drei anderen Polen zu fliehen. Sie wollten sich zu den Russen durchschlagen und landeten schließlich wieder in Landeshut. »Wenige Tage haben wir noch bei der Organisation Todt mitgearbeitet, dann wurden wir befreit.« Auch KZ-Häftlinge wurden von den Russen befreit. »Die sind dann durch die Stadt gelaufen und haben Essen gesucht. Einige sind auch gestorben, weil sie zu schnell zu viel gegessen haben. Das war schrecklich ...«
Der nun 23-Jährige arbeitete zunächst als Dolmetscher für die Russen, dann bei der polnischen Stadtverwaltung. Er bekam ein Zimmer bei einer deutschen Familie, die sich gut um ihn kümmerte. »Damals waren die Nürnberger Prozesse. Die Deutschen durften in den polnischen Gebieten kein Radio besitzen, ich hatte aber eins.« Und so kam die Familienmutter immer zu ihm, um die Gerichtsreportagen zu hören. »Sie hat geweint«, erinnert sich Szajowski. »Sie konnte es nicht fassen.« Er habe zu ihr gesagt: »Frau Niemann, die KZ-Häftlinge sind durch die Stadt marschiert. Sie haben das doch gesehen?« Sie habe dann geantwortet: »Aber das waren doch Häftlinge ...«
»In diesem Moment waren sie für mich einfach nur Menschen«
Szajowski studierte in Stettin, lebte dort 20 Jahre. Der promovierte Diplom-Betriebswirt war in der Schiffbauindustrie beschäftigt und kam wegen der politischen Unruhen in seiner polnischen Heimat Anfang der Achtzigerjahre schließlich nach Deutschland. Während des ganzen Krieges habe er sehr viele negative Gefühle gegenüber den Deutschen verspürt, sagt er, natürlich. Aber er erinnert sich auch an einen besonderen Moment des Mitgefühls. »Ich sah in Landeshut die deutschen Soldaten auf ihrem Rückzug damals. Und ich habe mich nicht gefreut. In diesem Moment waren sie für mich einfach nur Menschen.« (GEA)
Die letzten Zeitzeugen
Der Zweite Weltkrieg steht für das Menschheitsverbrechen des Holocaust, für massenhafte Vertreibung, Trauer, Leid, Tod, traumatisierte Menschen, zerstörte Landstriche und Städte. Rund 60 Millionen Menschen starben zwischen 1939 und 1945. Die Aufarbeitung dieser Zeit ist genauso wichtig wie sicherzustellen, dass solche Verbrechen nie wieder passieren. Zur Erinnerungskultur gehört aber auch, den Menschen zuzuhören, die damals gelebt haben. Und dazu bleibt nicht mehr viel Zeit. Der GEA lässt die letzten noch lebenden Zeitzeugen in der Region in einer losen Artikelserie zu Wort kommen.
Viele von ihnen haben sich erst im hohen Alter dazu entschlossen, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Sie waren in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädel, wuchsen als Kinder von Nazi-Gegnern wie auch glühenden Partei-Mitgliedern auf. Sie haben Bombardierungen, Vertreibung und Zwangsarbeit erlebt, waren Soldat und sogar in Kriegsgefangenschaft. Ihre Geschichten sollen exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zeigen, wie das Leben in Deutschland damals ausgesehen hat. (kk)


