REUTLINGEN. Weil sich viele Radfahrer bei der Stadt beschwert hatten, da sie sich in der Tübinger Straße in Reutlingen auf Höhe der Bosch-Baustelle gefährdet fühlten, hat sich eine Polizeistreife am Morgen des 14. November 2023 dort platziert, um den Verkehr zu überwachen. Zwischen der Einmündung Kaibachstraße und der Kreuzung mit der Bantlinstraße/B28 verengt sich nahe der Zufahrt zu Tor 2 der Firma Bosch die Fahrbahn. Da der parallel zum Gehweg verlaufende Radweg vor diesem Nadelöhr endet, gilt dort das Zweirad-Überholverbot: Fahrräder, Mofas und Mopeds dürfen in dem Bereich nicht von mehrspurigen Fahrzeugen überholt werden. Zudem gibt es dort in der Fahrbahnmitte eine durchgezogene weiße Linie. Die bedeutet für alle Verkehrsteilnehmer, dass sie sie nicht überfahren dürfen.
Ein relativ neues Verkehrsschild
Seit der Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) vom 20. April 2020 gibt es ein neues Überholverbotsschild, das insbesondere Unfälle mit wenig geschützten Verkehrsteilnehmern verhindern soll: das Schild Nummer 277.1 zum »Verbot des Überholens von einspurigen Fahrzeugen für mehrspurige Kraftfahrzeuge und Krafträder mit Beiwagen«, kurz »Zweirad-Überholverbot«. Auf weißem Grund zeigt das Schild in einem roten Kreis links in Rot ein stilisiertes Auto und rechts davon oben in Schwarz ein Fahrrad und - abgetrennt durch einen schwarzen Strich - darunter ein motorisiertes Zweirad oder einen Motorroller, jeweils in Heckansicht. Entsprechend dürfen Fahrer eines Autos, Busses, Lkws oder Motorradgespanns dort keine einspurigen Fahrzeuge überholen. Wer das Verbot missachtet, muss mit empfindlichen Strafen rechnen: 70 Euro Bußgeld und ein Punkt in Flensburg. (dia)
Sowohl die durchgezogene Linie als auch das Überholverbot hat ein Rechtsanwalt an jenem Morgen auf dem Weg in seine Kanzlei missachtet. Einer der beiden Polizisten hielt den Autofahrer damals an und erläuterte ihm sein Vergehen. Sein Kollege nahm die Personalien auf. Rund zwei Wochen später flatterte dem 59-Jährigen ein Bußgeldbescheid ins Haus: 98 Euro, 70 Euro Strafe plus Bearbeitungsgebühren, sollte er bezahlen - und dazu einen Punkt in der Flensburger Verkehrssünderkartei erhalten.
Beides räumte der Mann, der sich anwaltlich selbst vertrat, am Montagvormittag vor dem Reutlinger Amtsgericht ein. Da es keinen Gegenverkehr gegeben habe und um den seitlichen Mindestabstand zu einer vor ihm fahrenden Radlerin beim Überholen einzuhalten, sei er mit den beiden linken Reifen seines Wagens über die durchgezogene Linie gekommen, schilderte er gegenüber Richterin Dr. Selina Domhan. Er sei an der Radlerin langsam vorbeigefahren, betonte er. Will sie demnach nicht gefährdet haben. Trotzdem gestand er: »Das war nicht korrekt, keine Frage.«
Verdeckt von einem Tieflader
Dennoch hatte er gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt. Denn das Schild zum Zweirad-Überholverbot habe er nicht gesehen, brachte der Betroffene zu seiner Verteidigung vor, nicht sehen können. Denn es sei von einem Tieflader verdeckt gewesen, der dort abgestellt war, um auf die Einfahrt in die Baustelle zu warten. Da er normalerweise auf einer anderen Strecke fahre, die an jenem Tag jedoch gesperrt war, kenne er die Gegebenheiten in der Tübinger Straße auch nicht von vorherigen Fahrten. Ergo: durchgezogene Linie überfahren? Ja; Überholverbot missachtet? Nein. Da das nicht ersichtlich war. Im Nachhinein findet er das von Betzingen her an einer Mauer rechts vom Gehweg erst kurz vor der Verengung aufgestellte Verkehrsschild 277.1 falsch platziert, erklärte er in der Verhandlungspause.
Die Anhörung der beiden Zeugen bestätigte die Aussagen des reumütig wirkenden Beschuldigten. Beide konnten nicht ausschließen, dass dort ein Sattelzug stand. Die Kontrolle war zur Zeit des Hauptanlieferverkehrs zur Baustelle, von daher »könnte dies durchaus sein«, sagte ein 36-jähriger Hauptkommissar. Diesen Bereich ständig einzusehen, sei ihnen nicht möglich gewesen, ergänzte sein 26-jähriger Kollege, ein Polizeioberkommissar. Sicher sei hingegen, dass sie an jenem 14. November »zahlreiche Verstöße festgestellt« haben. Die Radler als Zeugen anzuhalten, wäre jedoch nicht möglich gewesen.
Richterin Domhan erließ den rechtlichen Hinweis, dass in diesem Fall »auch eine Ordnungswidrigkeit wegen verbotswidrigen Fahrens über eine Fahrbahnbegrenzung in Betracht komme«. Ihr Urteil: Die Einlassung des Beschuldigten lässt sich nicht widerlegen. Nachzuweisen sei ihm nur die fahrlässige Ordnungswidrigkeit. Das Bußgeld dafür: 10 Euro. (GEA)