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Unruhen in der Türkei: Reutlinger in Sorge

Die Unruhen in der Türkei halten seit Tagen trotz Verboten an. Stadtrat Mert Akkeceli, ein Reutlinger mit türkischen Wurzeln, blickt mit großer Sorge auf die Ereignisse.

Studenten protestieren in Istanbul gegen die Verhaftung von Bürgermeister Ekrem Imamoğlu. Foto: dpa
Studenten protestieren in Istanbul gegen die Verhaftung von Bürgermeister Ekrem Imamoğlu.
Foto: dpa

REUTLINGEN. Mal eben kurz ins Netz schauen, wie es aussieht in der Türkei: Mert Akkeceli zückt das Handy, das ihn mit seiner Familie in der Türkei verbindet – auch mit den beiden Cousins, beide um die 30, die jetzt zu den Hunderttausenden gehören, die in türkischen Städten für die Freilassung des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoğlu auf die Straße gehen.

Die Cousins seien das erste Mal auf der Straße. In Istanbul, vermummt mit Maske und nicht an vorderster Front. Die Angst sei groß, berichtet der SPD-Kommunal-Politiker, ein gebürtiger Reutlinger mit türkischen Wurzeln. Die Polizei geht teils brutal und mit Pfefferspray, Wasserwerfern und Blendgranaten gegen die Demonstranten vor. Manche werden von der Polizei mitgenommen, landen in Untersuchungshaft. Zwar gebe es ein Demonstrationsrecht in der Türkei, berichtet Akkeceli. Ausgangssperren böten aber den Hebel, gegen die Bürger vorzugehen.

Was geht ab in der Türkei: In der Mittagspause bringt sich Mert Akkeceli auf den neuesten Stand.
Was geht ab in der Türkei: In der Mittagspause bringt sich Mert Akkeceli auf den neuesten Stand. Foto: Andrea Glitz
Was geht ab in der Türkei: In der Mittagspause bringt sich Mert Akkeceli auf den neuesten Stand.
Foto: Andrea Glitz

Gerade auch bei Älteren dominiere die Angst. »Sie haben den Militärputsch von 1980 erlebt. Das Chaos danach«, weiß der Reutlinger. Es seien vor allem viele junge Leute, die auf die Straße gehen für die Freiheit und ihren »Hoffnungsträger Imamoğlu«.

Die Bürger demonstrierten »sehr spontan«. Die Metro in Istanbul fährt nicht, ein Auto haben die Cousins nicht. Man mache mit, wo gerade etwas los sei. Licht aus- und anknipsen oder aus dem Fenster heraus klatschen, seien Protestformen für Bürger, die nicht auf die Straße können oder möchten.

Das Internet ist zeitweise gedrosselt oder ganz abgestellt. Bei Telefonaten mit der Familie ist man unterdessen vorsichtig, was man sagt. Aus Angst vor Überwachung. Als Mert Akkeceli am Tag nach Imamoğlus Inhaftierung kritische Posts weiterleitete, machten sich die türkischen Verwandten Sorgen, warnten ihn: »Ist das gut?« Der 31-jährige Leiter der VHS Pfullingen ist in Deutschland geboren, hat aber beide Staatsbürgerschaften. Seine Eltern sind in der Türkei geboren. Regelmäßig macht er dort Urlaub, besucht Oma, Onkel, Tanten und die Cousins. Für Mai ist der nächste Flug gebucht. Ob die Reise stattfindet, steht noch in den Sternen. Ein bisschen mulmig bei der Einreise war ihm schon früher, sagt der 31-Jährige, der seit 2024 für die Sozialdemokraten im Reutlinger Gemeinderat sitzt.

Wie hat sich das Land verändert, was hat Akkeceli bei seinen Reisen wahrgenommen? »Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer und die Mittelschicht rutscht ab. Es gibt bald keine mehr.« Alltägliches werde unerschwinglich, Fleisch und Käse etwa seien für viele zu Luxusgütern geworden. »Viele gehen abends auf den Markt, um billiger einzukaufen. Es fällt auch auf, dass die Menschen ärmlicher gekleidet sind.« Im Sommer liefen Kinder bei größter Hitze umher und versuchten Wasserflaschen und Tempotaschentücher an Autofahrer zu verkaufen. Exorbitante Mieten belasteten die Bürger. Bildung sei teuer, ein Studium für immer mehr Bürger unerschwinglich.

Die Arbeitslosigkeit sei gerade auch bei jungen Leuten hoch. Selbst Studierte finden nach der Uni keine Arbeit, sehen keine Perspektive, gehen ins Ausland, berichtet der Reutlinger.

Viele glaubten nicht mehr an das Versprechen »Es geht Euch besser« von Präsident Recep Erdoğan bei der Einführung des Präsidialsystems. »Wenn es eine Wahl gibt, hat Erdoğan keine Chance«, ist sich Mert Akkeceli sicher, »egal, wer von der CHP antritt.« Die sozialdemokratische Cumhuriyet Halk Partisi, der auch Imamoğlu angehört, habe schon bei der letzten Kommunalwahl in vielen Erdoğan-Hochburgen den Sieg davongetragen, was laut Akkeceli viele überrascht hat. Erdoğan wird nicht nachgeben, fürchtet der Reutlinger jedoch auch, und notfalls den Ausnahmezustand verhängen.

23.03.2025, Türkei, Istanbul: Beamte der Bereitschaftspolizei verhaften einen Demonstranten während einer Demonstration nach der
Beamte der Bereitschaftspolizei verhaften einen Demonstranten während einer Demonstration nach der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu. Foto: Francisco Seco/ap/Francisco Seco/AP/dpa
Beamte der Bereitschaftspolizei verhaften einen Demonstranten während einer Demonstration nach der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu.
Foto: Francisco Seco/ap/Francisco Seco/AP/dpa

Von Deutschland und der EU – auch von seiner eigenen Partei – wünscht er sich indes mehr als nur wohlfeile Statements zur Festnahme des Oppositionspolitikers. Sanktionen zum Beispiel. Wirtschaftliche und politische Verflechtung – Staatsräson mache klare Worte und Taten jedoch kompliziert. Und dann sei da noch das »unsägliche Flüchtlingsabkommen«, dessen Folgen auch er bei seinen Türkei-Aufenthalten sehen konnte, etwa in Form von »Leuten, die auf der Straße leben, und bettelnde Kinder«. Auch das Lohndumping nehme zu. »Eine hundertprozentige Demokratie war die Türkei nie, aber so wie jetzt war es nie«, sagt Mert Akkeceli bekümmert. Wie viele Menschen, deren Wurzeln in Ländern mit weniger freiheitlicher Politik und Kultur gründen, weiß er das System in Deutschland besonders zu schätzen. Sein Großvater ist in den 70er- Jahren als Gastarbeiter nach Reutlingen gekommen. Dass der Enkel sich nun dort im Stadtparlament fürs Gemeinwesen engagiert, würde ihn mit Stolz erfüllen, da ist sich der junge Sozialdemokrat sicher.

Ihn befremdet, dass ein Großteil der in Deutschland lebenden Türken, die an Wahlen in der Türkei teilnehmen, ihr Kreuzchen bei Recep Erdoğan machen: 60 Prozent habe seine AKP-Partei bei der letzten Wahl im Einzugsbereich des türkischen Konsulats in Stuttgart bekommen.

Nach Akkecelis Einschätzung ist der Zuspruch für den Autokraten auch unter den Reutlinger Türken hoch. Deshalb habe er selbst die doppelte Staatsbürgerschaft behalten: So kann auch er in Stuttgart wählen gehen – und die CHP unterstützen.

Das Thema begleitet den gebürtigen Reutlinger nicht erst seit den Unruhen. Sobald seine türkischen Wurzeln offenbar werden, komme die Frage »Wie stehen Sie zu Erdoğan, wie stehen Sie zur Türkei? Und ich muss mich immer rechtfertigen und Position beziehen.« Auch unter Türken werde es hier wie dort schnell politisch. In der Türkei selbst führe dies zu Verwerfungen zwischen Regierungsanhängern und -gegnern: »Die Polarisierung der Gesellschaft ist dort noch stärker als in Deutschland.« (GEA)