REUTLINGEN. Sein eigenes Leben hat ein Mann bislang im Alkohol ertränkt. Immer wieder ist er straffällig geworden. Mal war er betrunken im Straßenverkehr unterwegs, dann hat er besoffen andere Menschen beleidigt, dazu mit Promillewerten jenseits von Gut und Böse Diebstähle begangen. Jetzt hat ihn das Schöffengericht am Amtsgericht Reutlingen im Interesse der Öffentlichkeit zur Einweisung in eine Entziehungsanstalt verurteilt. Doch wenn er diese Chance nicht nutzt, landet er zwei Jahre und neun Monate im Gefängnis.
Zum Bedauern von Richter Eberhard Hausch ist der 43 Jahre alte Angeklagte kein Unbekannter im Sitzungssaal 1. Immer wieder ist er in den vergangenen Jahren mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, weil er seine Sucht nach Alkohol nicht in den Griff bekommt. Bei einer vergangenen Verhandlung hat er im Gerichtssaal getrunken, bis er verhandlungsunfähig war. Diesmal wirkt der alleinstehende Tunesier nüchterner, ist seine Fahne zumindest bis zur Mittagspause kürzer als sonst. Was Staatsanwältin Stephanie Schatz in gleich mehreren Anklageschriften vorträgt, hängt in jedem einzelnen Fall mit der Alkoholsucht des 2013 nach Deutschland gekommenen Mannes zusammen. Die Last der Vorwürfe ist erdrückend. Die meisten davon gibt er später über seine Verteidigerin Dr. Mona Anwar zu.
Eine Dreiviertelstunde lang verliest Schatz eine Liste von stets ähnlich lautenden Tatbeschreibungen, bei denen anschließend Promillewerte im Blut des Beschuldigten gemessen wurden, mit denen gesunde Menschen längst ein Fall für die Notaufnahme wären: immer über zwei Promille, vielfach sogar deutlich jenseits von drei Promille. Schon das beweist, wie schwer suchtkrank dieser von Sozialhilfe lebende Mensch ist. Nur mit Alkoholgewöhnung erklären sich seine wiederholten Touren mit dem Rad in eigentlich komplett fahruntüchtigem Zustand.
Im Gerichtssaal
Richter: Eberhard Hausch. Schöffen: Silvia Crespo und Karl Manegold. Staatsanwältin: Stephanie Schatz. Verteidigerin Dr. Mona Anwar.
Einmal war er in Schlangenlinien auf einem Fahrrad unterwegs, streifte dabei mehrere Autos, wollte sich anschließend unerlaubt von der Unfallstelle entfernen. Die herbeigerufenen Polizisten beleidigte er mit Schimpfworten unter und oberhalb der Gürtellinie. Auch bei anderen Gelegenheiten waren in seinem von ständigen Bier- und Wodkakonsum geprägten Leben Anstand und Benimm eher Fremdworte. Bestandteile der Anklage sind zusätzlich mehrere Ladendiebstähle in Geschäften, die ihm zuvor ein Hausverbot erteilt hatten - womit auch noch Hausfriedensbruch obendrauf kam.
Trotz oder gerade wegen seiner Sucht blieb es dabei noch lange nicht. Zur Last gelegt wurden ihm Fahrraddiebstähle beziehungsweise die Hehlerei mit einem teuren Pedelec, das er verdächtig günstig auf einem Flohmarkt erwarb und weiterverkaufte. Die paar Hundert Euro dazu hatte er wohl als Entlassungsgeld nach einem seiner Gefängnisaufenthalte erhalten. Angeblich war ihm nicht klar, dass es sich bei dem E-Bike um ein gestohlenes Exemplar handelte. Einen Taxifahrer prellte er um den Fahrpreis, der ihm zu hoch erschien. Die aktuellen Anklagen decken sich mit früheren.
Sucht als Schuldminderung
Bis zur Mittagspause scheint er halbwegs nüchtern zu sein. Zur Fortsetzung des Prozesses erscheint der Tunesier dann mit hochroten Kopf, glasigen Augen und lallender Aussprache. Dieser Auftritt verleiht der Einschätzung des Psychiaters Dr. Hubertus Friedrich zusätzlich Glaubwürdigkeit. Beim Angeklagten, so der Fachmann von der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Zwiefalten, »bestehen psychische und Verhaltensstörungen durch Alkoholabhängigkeit«. Hinweise für eine Schuldunfähigkeit lägen nicht vor, wohl aber eine Schuldminderung. Eine »langfristige Entwöhnungsbehandlung« in einer geschlossenen Facheinrichtung habe durchaus Erfolgsaussichten.
Genau dazu wird der Mann am Ende verurteilt. Dies im Sinne der öffentlichen Sicherheit. »Ihm ist unserer Meinung nach zu helfen«, sagt Richter Hausch. An den leicht dösenden Angeklagten richtet er die Warnung, bei der Therapie mitzumachen, sonst drohe eine Zukunft hinter Gittern. (GEA)