REUTLINGEN-REICHENECK. Als am 16. Oktober 1910 in Reicheneck Kirchweih gefeiert wurde, war das ein nachgerade historischer Moment. Denn schon seit etlichen Dekaden hatte sich der Flecken einen eigenen Sakralbau gewünscht. War der Weg nach Mittelstadt, den die Bevölkerung zwecks Gottesdienstbesuch einst täglich, später dann immer sonntags unter die Sohlen nehmen musste, doch vergleichsweise lang.
Bei Wind und Wetter, sommers wie winters stapften die Reichenecker also zur »Muttergemeinde« ins drei Kilometer entfernte Mittelstadt, um dortselbst Gottes Segen zu empfangen. Eifrig, heißt es in den Quellen, taten sie das. Zuverlässig und pünktlich, wie der im Jahre 2016 verstorbene ehemaliger Reichenecker Schultes Erwin Bleher in seinem Abriss über »100 Jahre Dorfkirche Reicheneck« schreibt.
Bleher zufolge sollen die Reichenecker sogar meist vor den Mittelstädtern im Kirchenchor gesessen haben. Freilich nicht ohne hin und wieder ein bissle zu bruddeln: zunächst nur leise, dann immer vernehmlicher. Denn blind und taub waren sie schließlich nicht, die Reichenecker, die sehr wohl wussten, dass Mitte des 19. Jahrhunderts fast jedes Dorf im Umkreis sein eigenes Kirchle hatte.
Nur Reicheneck musste warten. Und warten. Und noch ein bissle länger warten. Um genau zu sein: bis Anfang des 19. Jahrhunderts, als schließlich doch noch Bewegung in die Sache kam. Warum? Weil das Töchterle nicht länger bloß bruddelte, sondern aufmuckte. Vor allem dann, wenn es von Mittelstadt zur Kasse gebeten wurde.
Immer wieder zurückgewiesen
Immer wieder ging die Mutter ihre Tochter um Geld an. Immer wieder wurde sie zurückgewiesen. Ein Spielchen, das die Beteiligten ausdauernd betrieben. Noch 1905 wurde nämlich darüber diskutiert, ob sich die Reichenecker finanziell an der Errichtung eines neuen Mittelstädter Sakralbaus beteiligen. Sie jedoch blieben ihrer Linie treu und lehnten ab. Statt zu zahlen, wandten sie sich erfolgreich an das evangelische Kirchenkonsortium (den heutigen Oberkirchenrat) mit der Bitte um Neuregelung der klerikalen Verhältnisse und um Genehmigung eines eigenen Kirchles.
Ab diesem Zeitpunkt, das Dorf zählte damals rund 200 Seelen, ging es Schlag auf Schlag. Im Oktober 1907 wurde die Gründung eines Kirchengemeinderats beschlossen und im Dezember vollzogen. Ein Jahr später erwirkte man beim Königlich Württembergischen Ministerium die Baugenehmigung für einen Sakralbau und konnte alsbald die Planung in Angriff nehmen.
Kein Geringerer als der spätere Stararchitekt und Frankfurter Stadtbaudirektor Martin Elsaesser war's, der die Reißbrettentwürfe fertigte und der Gemeinde zu einem für die Region einmaligen Kleinod mit englischem Fachwerk verhalf. 19.000 Mark musste das Dorf für seine architektonische Schönheit vom Lande berappen. Doch das schreckte niemanden. Im Gegenteil. Eine Welle der Euphorie erfasste die Menschen. Sie fand ihren Ausdruck in großzügigen Spenden und emsiger Schaffigkeit, denn Zupacken war Ehrensache; sogar für professionelle Handwerker, die für ihre Arbeit wenig mehr als ein »Vergelt’s Gott« verlangten. Und dann war es endlich so weit: Nach 700 Jahren ohne geistliche Mitte und nach sieben kurzen Monaten Bauzeit konnte die Dorfkirche eingeweiht werden. (GEA)