REUTLINGEN-BETZINGEN. Beats wummern. In der Luft liegt Lack-Geruch. Und auf dem sonst so ruhigen Radschnellweg zwischen Friedhofsmauer und Bahndamm herrscht Trubel: Etwa 50 Künstlerinnen und Künstler bearbeiten beim Graffiti-Event »urbana rt.« konzentriert die 160 Meter lange Betonwand mit ihren Sprühdosen. Die einen arbeiten mit Schablonen, andere mit Vorlagen auf Papier, wieder andere – die »Freestyler« – in freier Improvisation. Schon am frühen Samstagnachmittag verwandelt sich die mausgraue Mauer mehr und mehr in ein kunterbuntes Kunstwerk. Und alle sind begeistert. »Man kann sich nichts Besseres vorstellen, eine Mega-Wand, tolles Wetter und man trifft heiße Leute«, schwärmt Graffiti-Künstler Jones. Und auch Bezirksbürgermeister Friedemann Rupp ist schwer angetan von der Betzinger Verschönerungsaktion, die mit auf die Initiative des Ortschaftsrates zurückgeht.
Erste Idee kam von der Bahn
Es ist die sechste Auflage des Graffiti-Projekts »urbana rt.« Mit im Boot bei der Jugendkulturveranstaltung der Stadt ist außer dem Amt für Schulen, Jugend und Sport, der Stiftung Jugendwerk und dem Kulturamt diesmal der Betzinger Ortschaftsrat. Noch ein Novum: Zum ersten Mal ist das Event nicht im Stadtgebiet, sondern in einer Reutlinger Bezirksgemeinde. Und auch das gab’s noch nie: Indirekt ist die Deutsche Bahn beteiligt. Denn die DB ist nicht nur Eigentümerin der vormals grauen Mauer, sondern von ihr kam die Idee, die Wand nicht »wilden« Sprühaktionen zu überlassen, sondern sie mit künstlerisch wertvollem Graffiti zu gestalten. Bei einer Vorbesprechung mit dem Ortschaftsrat zur Sanierung der maroden Stützmauer kam der Vorschlag auf, berichtet Friedemann Rupp. »Das ist dann bei der Bahn ein bisschen in Vergessenheit geraten.« Nicht beim Bezirksgemeinderat, der begeistert war von der Idee. Durch die Kontakte von Ortschaftsrätin und Künstlerin Jenny Winter-Stojanovic zu Organisator Julius Zenker vom Jugendhaus Hohbuch gelang es schließlich, mit »urbana rt.« ein Graffiti-Event der Extra-Klasse nach Betzingen zu holen.
Mehr als nur Farbe auf Wänden
Neben dem Dank an die Sponsoren – der Kreissparkasse und der Firma Heinrich Schmid - erwähnt Betzingens Bezirksbürgermeister bei der Eröffnung des Events ausdrücklich das Engagement der Bahn, was die Künstler mit einem anerkennenden »wow« quittieren. Ein »wow« kommt später aber auch von den Besuchern, die die Verwandlung der Mauer beobachten. Wobei Graffiti mehr ist als nur Farbe auf Wänden, wie Friedemann Rupp in seiner Eröffnungsrede erklärt. Nämlich Ausdruck, Haltung, auch ein Spiegel gesellschaftlicher Themen. »Urbana rt.« biete die Plattform, um diese Kunstform zu feiern, zu fördern und »Farbe zu bekennen für Offenheit, Vielfalt und künstlerischen Freiraum«.
Eine Veranstaltung wie »urbana rt.« braucht neben Sponsoren viele Unterstützer, zu denen am Wochenende die SSG Reutlingen-Tübingen und die Betzinger Kräuterhexa als kulinarisch Verantwortliche ebenso gehören wie das DJ-Kollektiv N.Y.A.D.S. »Schön, dass ihr alle hier seid«, sagt er Rupp explizit auch zu denen, die zur Verschönerung Betzingens beitragen. Neben Graffiti-Künstlern der lokalen Szene – darunter etliche namhafte - sind das eigens aus den Partnerstädten angereiste Sprayer, Mitglieder des Jugendgemeinderates, Azubis der Firma Heinrich Schmid. Die lange Wand ist in 30 Abschnitte aufgeteilt, auch Kids dürfen mit Spraydosen ran.
Kreativität sind keine Grenzen gesetzt
Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Die leben an diesem Wochenende auch Marko und Dennis aus. Marko ist im normalen Leben Industriemechaniker, Dennis kommt aus dem Marketing. Heute stehen sie vor der schwarz vorgestrichenen Wand, darauf blaue Striche. Anfangs halten sich die beiden an Skizzen, später wird improvisiert. »Free style«, sagt Marko und verrät, dass die Farbe Rot eine Rolle spielen wird. Für ihn ist Graffiti Hobby. Mehr noch. »Das ist meine Leidenschaft, da steckt Herzblut drin.« Marko macht seit 20 Jahren Graffiti, ist froh, dass es in Reutlingen mittlerweile viele legale Flächen und dazu Events wie »urbana rt.« gibt. »Im Vergleich zu früher hat sich da echt viel getan.«
Ganz so viel Erfahrung bringen Eden und Zara-Lea aus Ellesmere Port, Reutlingens englischer Partnerstadt, nicht mit. Beide sind knapp über 20, studieren Kunst und Design. Und freuen sich, dass sie in Betzingen nach Lust und Laune sprayen können. In ihrer Heimat, sagen die beiden gut gelaunten jungen Frauen, gibt es so gut wie keine erlaubten Flächen für Graffiti-Künstler. Einmal sei sogar die Polizei gekommen, als sie legal gesprayt habe, erzählt Zara-Lea. Steigt auf ihre Leiter, zückt die Spraydose, arbeitet konzentriert an ihrem Kunstwerk weiter. Und erklärt, was ihre ästhetische, sehr filigrane Komposition bedeutet: »Eine Frau, die einen Mann auf dem Arm hoch hebt.«
Seit 30 Jahren in der Szene
Zwei Abschnitte weiter ist Mike Miller aus Reading, Reutlingens Partnerstadt in Pennsylvania, am Werk. Auch er ist eigens für »urbana rt.« angereist. Im unteren Teil der Wand arbeitet er mit einer feinen Schablone. Am Ende wird in der Mitte der Wand aber ein imposanter Distelfink zu sehen sein – das traditionelle Symbol der deutschen Einwanderer, die im 18. Und 19. Jahrhundert nach Pennsylvania kamen, so Miller. Jones von der Crew BWS (»Born wild squad«) hält nicht viel von Schablonen. Er zeigt auf sein Werk. Blaue Striche, die für Buchstaben und sein Synonym »Pers« stehen. »Die künstlerische Freiheit besteht darin, dass man sie so in Länge, Breite und Form gestaltet, dass sie nicht mehr als Buchstaben erkennbar sind.« Jones, von Beruf Projektleiter, ist seit 30 Jahren in der Graffiti-Szene aktiv. Früher, erinnert er sich, »hat man an irgendwelche Wände hingemalt«. Manchmal illegal. Doch diese Zeiten sind vorbei. »Jetzt können wir uns auf freien Flächen austoben.« (GEA)