REUTLINGEN. Vor 75 Jahren waren Energie und Rohstoffe Mangelware. Es herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit des Umbruchs – mit Übergang in die Soziale Marktwirtschaft. Dies lässt sich für das GEA-Verbreitungsgebiet auch aus dem Jahresband 1949 der Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer (IHK) Reutlingen sowie im Buch »1900 – 2000: 100 Jahre Handwerkskammer Reutlingen« nachvollziehen. Als Folge politischer Entwicklungen und des wirtschaftlichen Strukturwandels entstand vor über 50 Jahren die Wirtschaftsregion Neckar-Alb, die die drei Landkreise Reutlingen, Tübingen und Zollernalb mit zusammen 66 Städten und Gemeinden umfasst – und heute mit knapp 718.000 Einwohnern und über 280.000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen einen zukunftsgerichteten, starken Teil Baden-Württembergs darstellt.
Christoph Heise, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK Reutlingen, ist für den GEA ins Archiv gestiegen. Kaum sechs Monate nach der Währungsreform hofften Präsident Hans Kern und Geschäftsführer Georg Stecher auf die Beseitigung der Zonengrenzen in Westdeutschland, eine bessere Versorgungslage und ausreichende Rohstoff-Versorgung. Der Jahresband der 1949er-IHK-Mitteilungen legt auf 200 Seiten dar, was den heimischen Unternehmen fehlte.Energie und Rohstoffe knappDa die Kohlenlieferungen zu gering ausfielen, bekamen Betriebe aus Industrie, Handel und Handwerk tagsüber Stromkontingente. Wohl dem, der nachts arbeitete: Nachtstrom bekam man im Frühjahr 1949 ohne Einschränkungen. Auch bei der Kreditversorgung der Betriebe klemmte es. Die »Kreditanstalt für Wiederaufbau« wurde gegründet. Als KfW besteht die Förderbank heute noch.
Aus den IHK-Mitteilungen strömt auch Aufbruchstimmung: In Reutlingen fand in der Listhalle eine »Internationale Motorschau« für Kfz-Handel, Logistikunternehmen, Landwirtschaft und Handwerk statt – und später im Jahr eine Auslandswarenschau, die zeigte, was in anderen Ländern sprichwörtlich gerade in Mode war. Im Nachbericht heißt es, dass »Jersey-Kleider für Aufsehen sorgten«. Die IHK gründete zusammen mit drei Nachbarkammern ein »Büro für Außenhandel«, um den Export wieder anzuschieben, und beteiligte sich an einer ersten Reise in die USA, um dort neue Kontakte zu knüpfen. Gegen Ende des Jahres 1949 veröffentlichte die IHK ihren Konjunkturbericht. Was wir heute Wirtschaftswunder nennen, schien sich anzubahnen.
Die Region Neckar-Alb mit wichtigen Orten und Verkehrsverbindungen. GRAFIK: IHK REUTLINGEN
Auch im genannten Jubiläumsbuch der Handwerkskammer Reutlingen ist von der Knappheit Ende der 1940er-Jahre die Rede: »Nicht die Handwerker sorgen für Stoff, Holz, Zement, Leder oder Mehl, sondern der Kunde. Oft kommt nur in den Genuss handwerklicher Leistungen, wer eigene Rohstoffe mitbringt.« Zu lesen ist auch, dass die Lehrlingsausbildung wieder rasch in Gang gekommen sei.
Seit dem Jahr 1855 gibt es die IHK Reutlingen, seit 1900 die Handwerkskammer Reutlingen. Beide Einrichtungen waren mehrere Jahrzehnte für größere Wirtschaftsräume zuständig als heute. Die Nationalsozialisten lösten die Kammern 1942 und 1943 auf und überführten sie in »Gauwirtschaftskammern« zu Handlangern für staatliche Planung und Kriegswirtschaft. Wegen der zwischen Amerikanern und Franzosen gezogenen Zonengrenzen verlor der IHK-Bezirk Reutlingen nach 1945 den Kreis Nürtingen. Den Kreis Horb gab er an den Bezirk Rottweil ab, erhielt jedoch die Kreise Münsingen und Ehingen hinzu. Ihre heutige Form erhielt die Region Neckar-Alb mit der Gebietsreform 1973: die Landkreise Reutlingen, Tübingen und Zollernalb.
Die Handwerkskammer Reutlingen war nach 1945 zunächst für das gesamte französisch besetzte Gebiet Württemberg und Hohenzollern zuständig. Nach Gründung des Bundeslands Baden-Württemberg gab sie mehrere Kreise an die Kammer in Ulm ab. Durch die Gebietsreform 1973 im Südwesten änderte sich der Kammerbezirk erneut: Die Kreise Calw, Rottweil und Tuttlingen wurden ausgegliedert. Teile der früheren Kreise Münsingen und Saulgau sowie Gemeinden der früheren Kreise Stockach und Überlingen kamen hinzu. Aktuell bilden die fünf Landkreise Freudenstadt, Reutlingen, Sigmaringen, Tübingen und Zollernalb den Bezirk der Handwerkskammer Reutlingen. Bei diesen Entwicklungen spielte der Strukturwandel eine Rolle. Betriebe im Textilhandwerk, Schmiede, Wagner und Sattler mussten aufgeben. Wichtig zum Verständnis ist auch die gesetzliche Regelung, dass neue Berufe gewöhnlich in den Betreuungsbereich der Industrie- und Handelkammern fallen. Die für fünf Landkreise zuständige Handwerkskammer Reutlingen hat heute 13.800 Mitgliedsbetriebe, die für drei Landkreise zuständige IHK Reutlingen 44.000.In Zukunftsbranchen unterwegsEnde der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre brach der Region Neckar-Alb die Textilindustrie als Leitbranche weg. Tausende Arbeitsplätze gingen verloren. In dieser Lage rief Uwe Jens Jasper, IHK-Präsident von 1995 bis 2000, eine regionale Standortinitiative ins Leben. Dies war der Start fürs heutige Regionalforum, eine Arbeitsgemeinschaft aus Wirtschaft und Politik, Verwaltung und Wissenschaft. Ihr Ziel: Impulse für die Region und Arbeits- und Ausbildungsplätze dort zu setzen. Die daraus 2003 entstandene Standortagentur Tübingen-Reutlingen-Zollernalb GmbH wirbt für Neuansiedelungen von Betrieben und um Fachkräfte.
Sie stellt Lebensqualität, gute Infrastruktur und sieben Hochschulen in der Region in den Vordergrund, wenn sie auf Messen für die Region Neckar-Alb auftritt. Sie vermarktet die Stärken entlang der Schlüsselbranchen Maschinenbau, Automotive, Medizintechnik, Technische Textilien, Biotechnologie, Künstliche Intelligenz und Handwerk. Markant ist das Begrüßungsschild an der Bundesstraße 27 von Stuttgart kommend bei Walddorfhäslach mit der Aufschrift: »Willkommen! Ab hier beginnt die Zukunft.« Gesellschafter der regionalen Standortagentur sind Kommunen, die drei Landkreise, der Regionalverband und die beiden Wirtschaftskammern. (GEA)