REUTLINGEN. Während der Bahnstreiks gab es Forderungen, das Streikrecht einzuschränken. Dies wurde wegen der Tarifautonomie im Grundgesetz zurückgewiesen. Doch was steht zu Streiks im Grundgesetz und wie kam es dazu. Ein Überblick:
Was steht genau im Grundgesetz?
Im Nationalsozialismus waren die Tarifautonomie aufgehoben und sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeberverbände im Sinne des NS-Regimes gleichgeschaltet. Deshalb garantiert das Grundgesetz bereits im Artikel 9 – also bereits im Abschnitt »Grundrechte« – die sogenannte Koalitionsfreiheit, also das Recht, Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zu bilden. Da heißt es: »Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen (…) dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.«
Welche Geschichte hat die Tarifautonomie?
Tatsächlich ist das Tarifvertragsgesetz bereits älter als das Grundgesetz und wurde vom Wirtschaftsrat der Vereinigten Wirtschaftszone der britischen und amerikanischen Besatzungszone bereits am 9. April 1949 beschlossen und später bundesweit übernommen. Das Tarifvertragsgesetz legt die Rahmenbedingungen für Tarifverhandlungen fest. Historisch geht das Tarifvertragsgesetz auf das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918 zurück. Dabei vereinbarten 21 Arbeitgeberverbände und sieben Gewerkschaften, die Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge zu regeln. Der Vertrag enthielt auch schon Vereinbarungen über Betriebsräte und die Einführung des Achtstundentags. Allerdings stimmten die Arbeitgeber dem Abkommen nur zu, weil sie im Zuge der Novemberrevolution das Zustandekommen einer linken Räterepublik mit Verstaatlichungen befürchteten. Dennoch wurden die Vereinbarungen dieses Abkommens im Grundsatz auch in der Bundesrepublik übernommen.
Wie unterscheidet sich das deutsche Streikrecht von anderen europäischen Ländern?
In Deutschland sind wilde Streiks nicht vom Grundgesetz geschützt, das heißt Arbeitsniederlegungen, ohne dass zuvor eine Gewerkschaft nach vorheriger Urabstimmung dazu aufgerufen hat. Das bedeutet vor allem, dass wilde Streiks – etwa 2004 bei Opel – für den Arbeitgeber einen Kündigungsgrund darstellen, was bei regulären Streiks nicht der Fall ist. In Italien sind solche wilden Streiks zulässig. Ebenfalls verboten sind Streiks während der Friedenspflicht, also wenn es noch einen gültigen Tarifvertrag gibt. Warnstreiks sind eine Grauzone. Außerdem müssen Streiks verhältnismäßig sein. In Griechenland gibt es keine Friedenspflicht. Politische Streiks – wie sie in der Weimarer Republik vorkamen – gelten in der Bundesrepublik seit einer Gerichtsentscheidung 1952 als verfassungswidrig, weil sie Artikel 20, Absatz 2 widersprechen. Dieser lautet: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.« Allerdings gibt es eine Ausnahme, das sogenannte Widerstandsrecht gegen undemokratische Bestrebungen. Der Generalstreik, an dem 1920 der rechtsradikale Kapp-Putsch scheiterte, und wohl auch der Mössinger Generalstreik gegen die Machtergreifung Hitlers wären wohl von diesem Widerstandsrecht gedeckt. Anders als in Deutschland kommt es in Frankreich häufiger zu politischen Streiks, etwa gegen die Rentenreform Emmanuel Macrons. Zwar sind auch in Frankreich offiziell politische Streiks verboten, doch Streiks gegen bestimmte sozial- und wirtschaftspolitische Belange gelten nicht als politische Streiks. In der Schweiz gibt es seit einem Abkommen aus dem Jahr 1937 für bestimmte Branchen einen Arbeitsfrieden, das heißt Tarifverträge werden durch eine Kommission ohne Arbeitskampf festgesetzt.
Was ist mit der Zwangsschlichtung?
Im Grundgesetz wurde die Zwangsschlichtung abgeschafft. Zuvor galt der Reichstagsbeschluss von 1923, dass der Reichsarbeitsminister einen Schlichtungsspruch für verbindlich erklären konnte. Es zeigte sich, dass dies nicht immer akzeptiert wurde. Deshalb wurde im Grundgesetz darauf verzichtet, obwohl es nach dem Krieg nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 35 von 1946 ein staatliches Schlichtungsverfahren gab. Das Kontrollratsgesetz Nr. 35 ist das einzige Kontrollratsgesetz, das im Grundsatz weiter gilt. Das Land Baden erließ am 19. Oktober 1949 eine Schlichtungsverordnung, die eine Schlichtung gegen den Willen der Tarifparteien ermöglichte. Diese Verordnung gilt formell bis heute weiter für Südbaden, weil es der Landtag 1956 ablehnte, sie aufzuheben. (GEA)