REUTLINGEN/STUTTGART. Die Abkürzung BSW soll an dieser Stelle nicht für die neue politische Partei Bündnis Sahra Wagenknecht stehen. Es geht vielmehr um den Bundesverband für strukturierte Wertpapiere. Dieser Branchenverband belegt mit seinen Statistiken den jüngsten Boom bei der Geldanlageform Zertifikate. Ende vergangenen Jahres waren demnach in Deutschland 112 Milliarden Euro in Zertifikaten investiert – 40 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Ende März dieses Jahres lag das Volumen sogar bei 121,1 Milliarden Euro, nach 99,7 Milliarden Euro ein Jahr zuvor.
Zertifikate sind Inhaberschuldverschreibungen der Banken, die sie herausgeben. Der Wert eines Zertifikats ist an die Entwicklung eines zugrunde liegenden Basiswerts gekoppelt; dies kann eine Aktie, ein Aktienkorb, ein Index, ein Rohstoff oder eine Währung sein (Weiteres zum Begriff Zertifikate siehe Infobox).
An diesen Finanzprodukten scheiden sich jedoch die Geister: Verbraucherschützer kritisieren sie als schwer verständlich und riskant. Es sei daher richtig, dass die Vertriebsrekorde die Finanzaufsicht Bafin auf den Plan gerufen hätten. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin, Bonn und Frankfurt) hat Mitte Mai angekündigt, sich ein genaues Bild davon zu verschaffen, ob sich das Produktangebot, die Beratung und der Verkauf von Zertifikaten »im Einklang mit den Interessen der Verbraucher« befinden. Die Bafin ist auch für den Verbraucherschutz im Finanzwesen zuständig. Unterdessen weisen Praktiker, auch von Banken aus der Region, darauf hin, dass viele ihrer Kunden wegen entsprechender Ertragschancen regelmäßig gezielt nach Zertifikaten fragten.
Komplexe Produkte
Vor allem Sparkassen und Genossenschaftsbanken haben ihrer Kundschaft zuletzt massenhaft Zertifikate verkauft. Sparkassen vertreiben Produkte der Dekabank (Frankfurt), Wertpapierhaus ihrer Finanzgruppe, sowie der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW, Stuttgart) und der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba, Frankfurt). Im Genosektor stammen die Zertifikate von der DZ Bank (Frankfurt). Volksbanken und Raiffeisenbanken bieten die Produkte ihres Zentralinstituts in der Fläche an.
»Wir beobachten, dass viele Zertifikate statt Festgeld verkauft werden«, stellt Niels Nauhauser, Abteilungsleiter Altersvorsorge, Banken, Kredite bei der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg (Stuttgart), fest. Die Regionalbanken böten Zertifikate als Alternativen zu ihren im Marktvergleich niedrig verzinsten Tages- und Festgeldern an und wollten damit Provisionen verdienen.
»Ich kann diesen Aufschrei nicht nachvollziehen«, sagt dagegen Jan Herrmann, Bereichsleiter Privatkunden bei der Volksbank Ermstal-Alb (Metzingen). Er erinnert daran, dass es Kunden gegeben habe, die mit Zertifikaten selbst in der Zeit der Nullzinsen »bei überschaubarem Risiko« Zinserträge erzielt hätten: »Wer mal ein Zertifikat hatte, fragt noch mal danach.« Es handle sich nicht um einen Ersatz fürs Festgeld, sondern um eine Ergänzung in der Vermögensstruktur, etwa neben Aktien, Bankeinlagen, Anleihen, Fonds oder Gold.
Ähnliches berichtet Oliver Gühring, Leiter der Abteilung Private Banking bei der Kreissparkasse Reutlingen: »Wir haben viele Kunden, die seit Jahren solche strukturierte Produkte mit bestimmten Laufzeiten, Risikopuffern und Erträgen nachfragen.« Es sei natürlich das gute Recht der Bafin, das Segment zu untersuchen: »Wir schauen, dass unser Angebot bei Zertifikaten unter Kundengesichtspunkten fair ist.«
Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale bezieht indes klar Position: »Ich würde generell keine Zertifikate empfehlen.« Diese Produkte seien komplex, intransparent und oft viel riskanter als es scheine: »In den USA sind sie zu Recht verboten.« Ein Express-Zertifikat zum Beispiel sei nicht so simpel wie eine Bankeinlage mit zwei Prozent Zinsen und drei Jahren Laufzeit. Kreative Produktnamen wie »Express-Zertifikat Memory mit Airbag« und komplizierte Zusatzbestimmungen überforderten manchen Sparer. Zertifikate seien zuweilen unattraktiver als Staatsanleihen und Festgelder, Erträge und Laufzeiten kaum einschätzbar. Zertifikate seien nicht wie Spareinlagen durch gesetzliche Einlagensicherungen der Banken geschützt und stellten auch kein Sondervermögen wie die Anlagen in einem Investmentfonds dar. Zudem merkt Nauhauser an: »Die Banken verstecken im Ausgabepreis satte Kosten und Vertriebsprovisionen.«
Vorauswahl und Beratung
Oliver Gühring erläutert indes, dass bei der Kreissparkasse Reutlingen der Produktausschuss aus dem riesigen Angebot an Zertifikaten passende Varianten auswähle, die dann Kunden mit unterschiedlichen Bedürfnissen angeboten würden. »Neben dieser Vorauswahl ist die ausführliche Beratung des Kunden wichtig«, fügt er hinzu. Die Kreissparkasse Reutlingen konzentriere sich vor allem auf Discount-Zertifikate mit einfacher Struktur, Kapitalschutz-Zertifikate und Express-Zertifikate mit großen Risikopuffern. »Klassische Zertifikate sind von der Gebührenstruktur her transparent: Der Kunde weiß, was die Bank daran verdient«, sagt Gühring. Jan Herrmann von der Volksbank Ermstal-Alb erklärt, dass mit entsprechenden Vergütungen der Beratungsaufwand der Bank abgedeckt werde. Er weist darauf hin, dass es auch Zertifikate gebe, bei denen die Anlegerin selbst bei fallenden Kursen abgesichert sei.
Herrmann stellt klar, dass Zertifikate »keine Einsteigerprodukte« seien, sondern eher etwas für erfahrene Anleger. Gühring zufolge braucht nicht jeder Kunde ein Zertifikat. Er habe aber schon Kunden gehabt, die Zertifikate als Einstieg in den Aktienmarkt gekauft hätten. Dass bei einigen Zertifikaten ein Stück weit Spekulation im Spiel ist, bestreiten die beiden regionalen Banker nicht. (GEA)

