REUTLINGEN. Zwei Drittel der Betriebe im Bezirk der Handwerkskammer Reutlingen zeigten sich mit dem Jahresabschluss 2019 zufrieden. 70 Prozent bewerteten ihre Geschäftslage noch zum Jahreswechsel als gut und gingen von einer stabilen Entwicklung in 2020 aus. Dann kam die Coronakrise. »Fast die Hälfte unserer über 13 600 Betriebe hat inzwischen einen Antrag auf Soforthilfe des Staates gestellt«, berichtet Joachim Eisert, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Reutlingen, dem GEA. Im Einzelfall sei die Lage stark abhängig von der Kundenstruktur. Häufig seien Handwerker Dienstleister für Industrie und Handel, Hotellerie und Gastronomie und müssten nun deutliche Auftragseinbrüche hinnehmen. Eisert erinnert zudem an die coronabedingten, zwischenzeitlichen Zwangsschließungen – etwa von Friseurgeschäften und Bäckerei-Cafés.
Die Reutlinger Kammer ist zuständig für die Handwerker in den Landkreisen Freudenstadt, Reutlingen, Sigmaringen, Tübingen und Zollernalb. Für 2019 kann sie Zuwächse bei der Zahl der Betriebe, bei deren Gesamtumsatz und Gesamtmitarbeiterzahl melden. Die Zahl der Betriebe stieg um 106 auf 13 638 (siehe Tabelle). Dies ist vor allem auf das Plus bei den zulassungsfreien Handwerken (Anlage B1 der Handwerksordnung) zurückzuführen, bei denen ein Befähigungsnachweis nicht erforderlich, die Ablegung der Meisterprüfung aber möglich ist.
Eisert zufolge bezog sich dieser Zuwachs vornehmlich auf die Gewerbe, deren »Rückvermeisterung« erwartet wurde – das heißt die Rückführung in die Meisterpflicht zu Beginn 2020. »Um von den Möglichkeiten des Bestandsschutzes Gebrauch zu machen, nahmen doch einige Gründungswillige ohne Meisterqualifikation in den betreffenden Gewerben, zum Beispiel Fliesenleger und Raumausstatter, die Gelegenheit zur Eintragung noch wahr, um auch nach Wiedereinführung der Meisterpflicht das Gewerbe weiterhin ausüben zu können«, sagt Eisert. Bei den bisher 41 zulassungspflichtigen Gewerken (Anlage A) war die Entwicklung neuerlich rückläufig. Seit Mitte Februar besteht in zwölf weiteren Gewerken Meisterpflicht als Voraussetzung für eine Selbstständigkeit.
2019: Vier Prozent Umsatzplus
Nach Berechnungen der Reutlinger Kammer stieg der Gesamtumsatz der Betriebe ihres Bezirks 2019 im Vergleich zu 2018 um 4 Prozent auf knapp 10,1 Milliarden Euro. Die Zahl der Beschäftigten bei der selbst ernannten regionalen »Wirtschaftsmacht von nebenan« erhöhte sich um 0,6 Prozent oder 525 auf 79 002. Daraus ergibt sich, dass der Pro-Kopf-Umsatz im regionalen Handwerk um 3,7 Prozent auf 127 591 Euro zugenommen hat. Eisert weist darauf hin, dass es große Unterschiede unter den knapp 150 Handwerksgewerken von A wie Augenoptiker bis Z wie Zweiradmechaniker gebe. Über die Hälfte der Betriebe hätten weniger als fünf Beschäftigte.
Der 62 Jahre alte promovierte Jurist Eisert erläutert, dass die Kammer Umsätze und Beschäftigtenzahlen der Betriebe nicht direkt erheben dürfe. Es handle sich um Schätzungen, die aus Daten des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg abgeleitet seien. Dabei veranschlage die Kammer beim Umsatz 9,6 Prozent und bei den Beschäftigten 9,9 Prozent des jeweiligen Landeswerts.
Dem Kammerchef zufolge könnten nun in der Krise »Gründungen in zulassungsfreien Berufen aus der Not heraus zunehmen, manchmal auch, um ein Zusatzeinkommen zu erzielen«. Der in Boomzeiten von Abwanderungen, etwa in die Metallindustrie, und vom Fachkräftemangel stark betroffene Wirtschaftszweig Handwerk könne wohl auch mit Rückkehrern rechnen. Eisert hofft, dass Ausbildung im Handwerk wieder attraktiver werde als zuletzt. Aktuell seien der Kammer 750 offene Lehrstellen mit Ausbildungsbeginn im Herbst bekannt.
Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverhältnisse ist 2019 gegenüber dem Vorjahr um 219 auf 1 777 zurückgegangen. Dabei fiel der Landkreis Reutlingen besonders negativ auf, weil die Zahl der neuen Lehrverträge dort von 680 auf 558 sank. Die Kammer analysiere dies genau, teilt Eisert mit. Die Erklärung sei eher der demografische Effekt, also der Rückgang bei den Schulabgängern, und weniger der oft genannte Trend zur akademischen Laufbahn.
Die Handwerkskammer mit ihren knapp 100 Beschäftigten verzeichnete 2019 ein reges Interesse an ihren Dienstleistungen. Es gab 25 000 telefonische Anfragen zum Thema Ausbildung, über 3 000 Beratungen zu Betriebswirtschaft, Technik und Umwelt und über 9 000 Beratungen und Anfragen zu Rechtsfragen.
In diesem Herbst sollen laut Eisert zwei Bauprojekte der Kammer abgeschlossen werden. Die Sanierung der Bildungsakademie in Tübingen nebst Neubau des Internats daneben werde voraussichtlich 15,3 Millionen Euro kosten. Für die Sanierung des Kammergebäudes in Reutlingen (siehe kleines Foto) seien 3 Millionen Euro veranschlagt – »wir liegen wahrscheinlich eher darunter«. (GEA)