REUTLINGEN. Die IHK-Kampagne »Wirtschaft macht Schule« hat auch nach 20 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren, obwohl sich die Umstände radikal verändert haben. Die Reutlinger Industrie- und Handelskammer fördert seit 2004 Kooperationen zwischen Betrieben und Schulen in der Region Neckar-Alb. »Die Zeiten allerdings, wo man auswählen konnte, welchen Azubi nimmt man denn, sind heute vorbei«, konstatiert die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper. Die Grünenpolitikerin spricht im IHK-Forum in Reutlingen beim Festakt von einem Erfolgsmodell für Reutlingen und weit darüber hinaus.
IHK-Vizepräsident Johannes Schwörer, seit 28 Jahren an der Spitze des Familienunternehmens Schwörer Haus, sagte, »wir wollten damals mehr Nähe, Kenntnis und Verständnis zwischen Schulen und Betrieben schaffen«. Für das Projekt Unternehmen an Schulen wurden neue IHK-Servicestellen gegründet. Die Idee, Schulen als Partner der Wirtschaft zu sehen, war damals ganz neu.
»Die Initiative entzündete einen kleinen Flächenbrand«
Schwörer blickt zurück. »Das war damals eine echte Herausforderung.« Jährlich sollten 30.000 zusätzliche Ausbildungsstellen geschaffen werden. In den Kammern gab es ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Johannes Schwörer als Chef des Hohensteiner Fertighausunternehmens, in dem heute immer rund 70 junge Menschen ausgebildet werden, kann da aus Erfahrung sprechen. Schwörer spricht für die Zeit damals von einer Win-win-Situation, die ihn begeistert habe, obwohl es auch Kritiker der Initiative gab. Eine treibende Kraft des Projekts war damals der für die Ausbildung verantwortliche stellvertretende IHK-Hauptgeschäftsführer Walter Herrmann.
Schwörer nennt Beispiele. Die Kampagne startete mit einzelnen Leuchtturmprojekten wie bei der Mez GmbH in Gönningen und in der eigenen Firma. Ein besonderes Projekt hieß »Junge Frauen starten durch« bei der Bitzer-Kühlmaschinen GmbH gemeinsam mit der damaligen Grund- und Hauptschule Rottenburg-Ergenzingen. »Die Initiative Wirtschaft macht Schule entzündete einen kleinen Flächenbrand, weil die Idee einfach zündete. Immer mehr Schulen und Betriebe in der Region machten mit. Die Kampagne wurde Kultprojekt mit Modellcharakter.«
Jugendliche konnten damals erste vorberufliche Erfahrungen sammeln, die Orientierung für die spätere Berufswahl gaben. »Manche Schulen und Betriebe wurden zu Wirtschaft-macht-Schule-Junkies wie die Gustav-Werner-Gemeinschaftsschule in Walddorfhäslach, die Schönbein-Realschule in Metzingen oder die Grundschule in Genkingen und so viele andere engagierte Schulen.«
Damals fehlte es nicht an Ausbildungswilligen, sondern an Lehrstellen. Heute gibt es viele Lehrstellen, aber zu wenig junge Leute. Schopper spricht von 13.000 unbesetzten Ausbildungsstellen in Wirtschaft, Handel und Handwerk im Ländle. Inzwischen gäbe es über 250 Ausbildungsberufe und da falle die Orientierung schwer. Ein Praktikum, das für den Betrieb erheblichen Aufwand bedeutet, kann in dieser Situation helfen. Schopper sieht in einem solchen Praktikum für viele Schüler auch einen neuen Motivationsschub für die Schule.
92 Prozent der Schulen hätten heute mindestens eine aktive Bildungspartnerschaft, sagt die Ministerin. Die Kampagne sei aber kein Selbstläufer mehr. Die Konzepte müssen immer wieder verbessert und modernisiert werden.
»Inzwischen zählt in den Unternehmen der Fachkräftemangel zu den größten wirtschaftlichen Herausforderungen«, so Schwörer. Mit dem neuen Reformpaket habe die Landesregierung gute Maßnahmen auf den Weg gebracht. Vor allem der Ausbau der Berufsorientierung an den Gymnasien oder die neue Regelung zur Grundschulempfehlung könnten gute Impulse bringen.
Schopper bot eine Tour d’Horizon durch die Berufsorientierung und die Bemühungen und Angebote der betreffenden Ministerien der grün-schwarzen Landesregierung. Dabei sprach sie auch ein heikles, aber entscheidendes Thema an. »Die Wirtschaft braucht junge Leute, die ausbildungsfähig sind. Da fehlt es an Mindeststandards.« Sie nennt das »ein absolutes Alarmsignal«.
»Ihr habt so gute Chancen, ihr müsst am Ball bleiben und das nutzen«
»Wir müssen schauen, dass wir die jungen Menschen in den Schulen qualifizieren. Es muss auch deutlich mehr in den frühkindlichen Bereich investiert werden.« Da spielt die Kenntnis der deutschen Sprache eine wichtige Rolle. Das war später auch ein Thema der anschließenden Diskussionsrunde im IHK-Forum. Schopper versprach mehr Sprachförderung. »Kinder dürfen nicht nur die Rücklichter des Zugs sehen, sondern sie müssen im Zug sitzen.« Damit sei in den Kitas begonnen worden, das werde ausgebaut.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die personelle Ausstattung. Auch hier gibt es Fachkräftemangel. »Wir können es uns nicht erlauben, dass im Prinzip 30 Prozent der Kinder nicht ausbildungsfähig sind, weil sie den praktischen Teil vielleicht noch halbwegs hinkriegen, aber den theoretischen Teil und den beruflichen nicht.« Schwörer hält Praktikumstage für alle Schulformen für unbedingt notwendig. »Fehlende praktische Erfahrung kann zu Fehlentscheidungen bei der Berufs- und Studienwahl führen und so zu Ausbildungs- und Studienabbrüchen.« Er appellierte an die Ministerin, die Lehrer und Rektorinnen zu unterstützen, die sich hier für ihre Schüler einsetzen.
Die Ministerin nennt die Umstellung vom achtjährigen wieder aufs neunjährige Gymnasium eine große Baustelle. »Berufliche Orientierung soll künftig im Unterricht mitberücksichtigt werden, und es geht um Digitalisierung an der Schule und neue verbindliche Praxisprojekte beispielsweise an örtlichen Betrieben.« Die berufliche Orientierung sei bei den anderen Schularten schon deutlicher ausgebildet als an den Gymnasien.
»Man muss den jungen Leuten aber auch sagen, sie sind so begehrt wie selten. Ich komme aus den geburtenstarken Jahrgängen, wie waren immer überall zu viele, und jetzt sind wir dann zu viele in der Rente. Man muss sagen, ihr habt so gute Chancen, ihr müsst am Ball bleiben und das nutzen.« Dazu gehört auch: »Nicht jeder muss aufs Gymnasium«, so die Grünenpolitikerin, »sondern auf die Schule, die dem Schüler guttut und seinem Berufswunsch entspricht«. (GEA)