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Industrie in Region Reutlingen-Tübingen baut Jobs ab

»Wir sind bei der Zunahme der Arbeitslosigkeit eine der am stärksten betroffenen Regionen in Baden-Württemberg«, sagt Markus Nill, Chef der Agentur für Arbeit Reutlingen, dem GEA.

Die Agentur für Arbeit in Reutlingen
Die Agentur für Arbeit in Reutlingen. Foto: Markus Niethammer
Die Agentur für Arbeit in Reutlingen.
Foto: Markus Niethammer

REUTLINGEN. Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist im dritten Jahr in Folge schwach. Folgen sind Stellenabbau, Werksschließungen und Insolvenzanträge. Dies hat sich auf dem Arbeitsmarkt der Region Reutlingen-Tübingen deutlich niedergeschlagen. »Wir sind bei der Zunahme der Arbeitslosigkeit eine der am stärksten betroffenen Regionen in Baden-Württemberg«, stellt Markus Nill, Vorsitzender der Geschäftsführung der für die beiden Landkreise zuständigen Agentur für Arbeit Reutlingen, im Gespräch mit dem GEA fest. »Dies liegt vor allem an der Struktur im Landkreis Reutlingen mit etlichen Industrie-Arbeitsplätzen«, fügt er hinzu.

Im Bezirk der Agentur für Arbeit Reutlingen waren im April 12.592 Menschen arbeitslos gemeldet – 1.327 oder 11,8 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Die regionale Arbeitslosenquote liegt bei 4,3 Prozent. Vor einem Jahr sah es mit 3,8 Prozent besser aus. Der Arbeitsmarkt in der Region steht zwar vergleichsweise immer noch gut da. Doch die jüngsten Entwicklungen auf Bundes- und auf Landesebene waren günstiger als in der Region.

Bundesweit stieg die Arbeitslosigkeit binnen Jahresfrist um 182.000 oder 6,6 Prozent auf 2,932 Millionen. Die Arbeitslosenquote erhöhte sich von 6,0 auf 6,3 Prozent. In Baden-Württemberg wuchs die Zahl der Arbeitslosen in den vergangenen zwölf Monaten um 25.500 oder 9,6 Prozent auf 290.267. Die Arbeitslosenquote nahm um 0,3 Prozentpunkte auf 4,5 Prozent zu.

Bestand an offenen Stellen sinkt

Nill macht darauf aufmerksam, dass die regionale Arbeitslosigkeit zuletzt besonders im Rechtskreis Sozialgesetzbuch III, also in der Arbeitslosenversicherung, gestiegen sei – nämlich innerhalb eines Jahres um 995 auf 5.536: »Das sind Menschen, die aus einer Beschäftigung zu uns kamen. Da haben wir, konjunkturell bedingt, deutlich mehr Kundenzugänge als -abgänge.« Im »industrielastigen« Landkreis Reutlingen sei die Negativ-Entwicklung mit plus 25,6 Prozent auf 3.355 Arbeitslose stärker gewesen als im »staatslastigen« Landkreis Tübingen mit einer Zunahme um 16,7 Prozent auf 2.181 von der von der Agentur für Arbeit betreute Personen.

Im Rechtskreis Sozialgesetzbuch II (Grundsicherung/Bürgergeld), für den die Jobcenter der beiden Landkreise zuständig sind, erhöhte sich die Zahl der Arbeitslosen binnen eines Jahres um 332 auf 7.056, und zwar um 6,0 Prozent auf 4.573 im Landkreis Reutlingen und um 3,1 Prozent auf 2.483 im Landkreis Tübingen. »Das ist unter anderem damit zu erklären, dass es den Jobcentern vermehrt gelingt, Flüchtlinge aus der Ukraine und acht weiteren Herkunftsländern in Arbeit zu vermitteln«, berichtet Nill.

Markus Nill, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Reutlingen, vor Schaubildern, die darlegen, wie sich die s
Markus Nill, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Reutlingen, vor Schaubildern, die darlegen, wie sich die schlechte Konjunkturentwicklung zunehmend auf dem regionalen Arbeitsmarkt niederschlägt. Foto: Schanz
Markus Nill, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Reutlingen, vor Schaubildern, die darlegen, wie sich die schlechte Konjunkturentwicklung zunehmend auf dem regionalen Arbeitsmarkt niederschlägt.
Foto: Schanz

Der Behördenchef verweist mit weiteren Kennzahlen auf die Konjunkturkrise. So seien der Zugang und der Bestand an offenen Stellen, die Betriebe der Agentur für Arbeit melden, seit Mitte 2023 rückläufig. Im April hatte die Reutlinger Arbeitsagentur 2.883 offene Stellen im Bestand – 316 oder 9,87 Prozent weniger als vor einem Jahr. Bundesweit gab es 646.000 offene Stellen, also 55.000 oder 7,85 Prozent weniger als vor einem Jahr. In Baden-Württemberg standen im April bei den 19 Agenturen für Arbeit 76.115 offene Stellen zu Buche – 6.768 oder 8,17 Prozent weniger als ein Jahr zuvor.

»Die Anfragen nach Kurzarbeit und Leistungsberatung sind seit 2024 gestiegen«, berichtet Nill. Dabei sei – auch im laufenden Jahr – die Metall- und Elektroindustrie am häufigsten betroffen. Die Ausgaben der Reutlinger Agentur für Kurzarbeit seien 2024 mit etwa 7,5 Millionen Euro fast doppelt so hoch gewesen als im Vorjahr (3,9 Millionen Euro).

»Im ersten Drittel dieses Jahres sind in unserem Agenturbezirk 332 Beschäftigte von anzeigepflichtigen Entlassungen betroffen gewesen. Im ersten Drittel des Jahres 2024 waren es 209«, verweist der Reutlinger Agenturchef auf eine weitere Statistik und sagt: »Auffallend ist auch hier die Häufung von produzierenden Unternehmen.«

Die Zahl der der Agentur für Arbeit bekannt gewordenen Unternehmensinsolvenzen in den Landkreisen Reutlingen und Tübingen sei von 18 in den ersten vier Monaten 2024 auf 32 in den ersten vier Monaten 2025 geklettert. »Dieser Trend dürfte leider anhalten«, verweist Nill auf Auftragsverlagerungen ins Ausland und hohe Energiepreise hierzulande.

Verfahren für Krisenfälle

Wenn andere weniger zu tun haben, sind die Beschäftigten einer Agentur für Arbeit besonders gefordert. »Wir sind Dienstleister. Ohne Arbeitslosigkeit und den Wunsch nach beruflicher Orientierung würde es uns nicht geben«, formuliert Nill. Zum »Verfahren für Krisenfälle« der Agentur in Reutlingen gehöre das Angebot, zu größeren Unternehmen vor Ort zu kommen, um über Entlassungen, Arbeitslosigkeit und die Hilfen der Behörde zu informieren. Damit die 43 Arbeitsvermittler sich um individuelle Fälle kümmern könnten, würden die allgemeinen Spielregeln im Falle der Arbeitslosigkeit vermehrt in Gruppenveranstaltungen (online und in Anwesenheit) erläutert.

Auf Nachfrage sagt Nill: »Es gibt noch immer Fachkräftemangel, aber nicht flächendeckend, sondern in Teilarbeitsmärkten.« Daher könne etwa die Insolvenz eines Pflegedienstes dringend benötigte Fachkräfte für andere Pflegedienste bedeuten. Nach wie vor seien von der Agentur für Arbeit finanzierte Umschulungen zu Erzieherinnen und Pflegekräften gesamtwirtschaftlich sinnvoll.

Nill begrüßt ebenso die Arbeitsmarktdrehscheibe Neckar-Alb in der Metall- und Elektroindustrie: Manche Unternehmen suchten wegen guter Auftragslage händeringend nach Beschäftigten, anderen stehe Beschäftigtenabbau bevor. Diese Unternehmen zusammenzubringen und den direkten Transfer von Beschäftigten zu erreichen, sei das Ziel der Arbeitsmarktdrehscheibe.

Unter den 12.592 Arbeitslosen in der Region Reutlingen-Tübingen im April waren im Übrigen 7.079 Männer und 5.513 Frauen. 27,9 Prozent von ihnen sind Langzeitarbeitslose, also seit einem Jahr und länger ohne Job.

44 Prozent der Arbeitslosen in der Region Reutlingen-Tübingen sind Ausländer, 25,7 Prozent sind 55 Jahre und älter, 7,8 Prozent sind unter 25 Jahre alt. Mit plus 12,5 Prozent und plus 21,8 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten haben auch die Gruppen der Älteren und der Jüngeren bei der Arbeitslosigkeit zuletzt zugelegt. (GEA)