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Aktuell INTERVIEW

»Immer noch in der Alarmstufe«

Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, über die Sicherheit der Gasversorgung und den Ausbau der Netze

Das Tankschiff »Maria Energy« liegt am schwimmenden LNG-Terminal in Wilhalmshaven an.  FOTO: SCHULDT/DPA
Das Tankschiff »Maria Energy« liegt am schwimmenden LNG-Terminal in Wilhalmshaven an. FOTO: SCHULDT/DPA
Das Tankschiff »Maria Energy« liegt am schwimmenden LNG-Terminal in Wilhalmshaven an. FOTO: SCHULDT/DPA

BERLIN. Die Gasspeicher sind gut gefüllt. Dennoch ist die Versorgungssituation wegen des Ukraine-Kriegs weiterhin gefährdet, meint Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, im GEA-Interview.

 

GEA: Herr Müller, vor zwei Jahren mussten Sie als Chef der Bundesnetzagentur dafür sorgen, dass es vor genügend Gas und Strom im Land gibt. Wenn Sie heute zurückblicken: Sind Sie zufrieden mit Ihrem Krisenmanagement oder gibt es einen Punkt, wo Sie sagen: Mensch Müller, da hätte ich besser sein können?

Klaus Müller: Es wäre arrogant, wenn irgendjemand im Rückblick auf ein Krisenmanagement behaupten würde, er hätte alles richtig oder optimal gemacht. Natürlich wünsche ich mir, dass wir die Digitalisierung des Krisenmanagements noch früher und noch schneller auf die Reihe bekommen hätten. Wir waren erst im Oktober 2022 wirklich handlungsfähig. Da haben wir ein paar Monate lang angesichts der Drohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin intern ganz schön gezittert. »Whatever it takes« war damals die aus der Not heraus geborene Devise. Das hat am Ende die Industrie beruhigt und, auch Dank der vollen Gasspeicher, die Preise wieder fallen lassen. Aber es hatte einen hohen Preis, den wir als Steuerzahler gezahlt haben. Insofern würde ich rückblickend sagen, wir hätten noch effizienter sein können. Und bei einer nächsten Gaskrise wären wir das auch.

Ihre Spar-Appelle verhallten vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges nicht ungehört. Es wurde weniger Energie verbraucht. Was sagen Ihre Zahlen heute, wo die Preise wieder gesunken sind: Ist ein Bewusstsein fürs Energiesparen geblieben?

Müller: Unterm Strich, ja. Allein schon deswegen, weil Gas immer noch ein wertvolles und ein etwas teureres Gut ist. Wir sehen das in den Statistiken. Im Juli diesen Jahres hatten wir immer noch knapp 19 Prozent weniger Gasverbrauch in der Industrie als in dem Durchschnitt der Jahre vor der Krise. Es gibt dafür verschiedene Gründe, aber es gibt in Deutschland insgesamt einen signifikant geringeren Erdgasverbrauch, als wir das vor der Krise gesehen haben.

Es heißt immer wieder, dass über Umwege am Ende doch russisches LNG-Gas in Wilhelmshaven und den anderen deutschen Standorten anlandet. Stimmt das?

Müller: Wahrscheinlich beziehen wir über die deutschen LNG-Terminals nicht direkt russisches Erdgas. Wir kontrollieren nicht jedes Schiff, aber alles in allem halten wir das für unwahrscheinlich. Die Einschränkung ist, dass sowohl in Belgien, Frankreich und Spanien russisches LNG angelandet wird, das dann in das europäische Pipeline-Erdgasnetz eingespeist wird. Mindestens über Belgien bezieht auch Deutschland signifikante Mengen Erdgas, immer mal wieder auch aus Frankreich. Das heißt nicht, dass das europäische Sanktionsregime unterlaufen wird. Wir reden nicht über Rechtsverstöße. Aber es gibt das moralische Dilemma, dass wahrscheinlich russische Erdgasmoleküle im deutschen Erdgasnetz vorhanden sind. Aber die Menge ist glücklicherweise eher gering.

Die einen sagen, Terminals wie Leitungen seien ohne großen Aufwand für grünen Wasserstoff nutzbar. Andere sagen, es müssten noch mal 50 Prozent der ursprünglichen Investitionskosten aufgewendet werden, um wirklich H2-Ready zu sein. Was sagen Sie?

Müller: Im großen industriellen Maßstab gibt es zu dieser Frage schlicht noch keine Erfahrung. Aber es gibt dazu momentan viele Testläufe. Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass man die Grundstücke und die nötigen Genehmigungen schon hat. Kosten sind das eine, die Zeiten, um sich die nötigen Strukturen zu sichern, sind mindestens genauso relevant. Im Kontext mit der Genehmigung des Wasserstoff-Kernnetzes sehen wir, dass die Umstellung von Leitungen kostengünstiger und technologisch einfacher ist, als man das befürchtet hat. Bei den Terminals wird es sehr stark darauf ankommen, welche Stoffe genutzt werden.

Jetzt wird es kompliziert.

Müller: Kleiner Exkurs in den Chemieunterricht aus der Schule: Wasserstoff ist flüchtig und deshalb eine große Herausforderung. Wasserstoffderivate, Ammonium oder Ammoniak zum Beispiel, sind wesentlich robuster. Das heißt, es wird sehr darauf ankommen, für welchen technischen Weg, für welchen unmittelbaren Rohstoff sich die Importeure bei den Schiffen und die Terminals entscheiden. Das wird eine unternehmerische Entscheidung sein und ich würde mich mal aus dem Fenster lehnen und glauben, dass es mit Ammoniak deutlich leichter wird. Mit Wasserstoff werden wir höhere Umstellungskosten sehen, aber das wird die Erfahrung zeigen. Und wie immer wird es Skaleneffekte geben. Der Erste zahlt ein höheres Lehrgeld, hat aber im Markt den »First Mover Advantage«. Die, die nachfolgen, werden davon profitieren, und es kostengünstiger hinkriegen.

Mit Blick auf das Wasserstoff-Kernnetz beklagen Länder wie Bayern und Baden-Württemberg ein Nord-Süd-Gefälle. Die IHK Baden-Württemberg etwa hat dringende Nachbesserungen angemahnt, sie fürchtet Wettbewerbsnachteile für die Region. Können Sie die Kritik nachvollziehen?

Müller: Wir hören diese Kritik auch. Wir haben jetzt die dritte Konsultationsrunde, die in diesem Kontext stattfindet. Dabei weisen wir erstens gerne darauf hin, dass es kein staatlich konzipiertes Netz ist. Die Fernleitungsnetzbetreiber haben mehrfach bei allen potenziellen Kunden nach belastbaren Projekten für Elektrolyseure und für neue Verbraucher nachgefragt. Sie können nur mit den Meldungen arbeiten, die sie aus den Ländern erhalten haben. Darauf aufbauend haben die Fernleitungsnetzbetreiber ihren Vorschlag eingereicht, den prüft die Bundesnetzagentur. Damit sind wir auch noch nicht ganz durch, wollen aber Ende September damit fertig sein. Es ist also ein Vorschlag aus der Wirtschaft heraus, da wird niemand diskriminiert. Hinzu kommen geografische Unterschiede. Es kommt mehr Wasserstoff aus dem Norden, weil da die Küsten, die Einspeisemöglichkeiten aus Norwegen, Belgien oder Holland liegen. Das muss in den Süden transportiert werden, das bildet sich im Netz unterschiedlich ab.

Also eben doch mehr Netz im Norden und weniger im Süden?

Müller: Es ist nur das Kernnetz, also der erste Schritt. Wir haben jetzt schon mit dem Szenariorahmen für die Netzentwicklungspläne begonnen, also den weiteren Ausbauplänen. Es wird ja gerne das Bild der Autobahnen und Landstraßen bemüht. Und so, wie sich eine Verkehrsinfrastruktur Jahr für Jahr weiterentwickelt, kann das auch für die Wasserstoffinfrastruktur gelten. Je nach Bedarf kann es eben auch im Süden hinweg weiter verfeinert werden. Es kommt auf die Investitionsvorhaben an.

Apropos Leitungen und Nord-Süd-Gefälle: Wie zufrieden sind Sie mit dem Ausbau der Stromnetze?

Müller: Stand August, die Zahlen sind taufrisch, sehen wir, dass wir auch dank der drei Beschleunigungsgesetze des Bundestages deutlich schneller werden. Im August letzten Jahres hatten wir 500 Kilometer an neuen Leitungen genehmigt, diesen August sind es 1.900 Kilometer. Also eine knappe Vervierfachung. Das heißt, sowohl auf Ebene der Übertragungsnetzbetreiber wie auf Ebene des Gesetzgebers – und auch ein klein wenig innerhalb der Bundesnetzagentur – haben wir Geschwindigkeit aufgenommen und liegen absolut im Plan.

Ein Blick nach vorn, denn der nächste Winter kommt bestimmt: Wie gut ist das Land auf die nächste Heizperiode vorbereitet?

Müller: Deutschland ist bei 93,4 Prozent Gasspeicher-Füllstand. Die EU hat im Durchschnitt die 90-Prozent-Marke ge-knackt. Wir sind den gesetzlichen Vorschriften damit um gut zwei Monate voraus. Für Süddeutschland sind ja auch die österreichischen Speicher relevant, also Haidach und 7Fields, und da liegen wir sogar bei über 95 Prozent. In der Kombination aus den eben diskutierten LNG-Terminals, aus den stabilen Lieferungen aus Norwegen, Belgien und Holland sowie den wirklich bombastisch gut gefüllten Erdgasspeichern sehen Sie die Bundesnetzagentur jetzt nicht übermäßig besorgt. Trotzdem gilt: Die Bundesregierung ist immer noch in der Alarmstufe. Es gilt immer noch, achtsam zu sein. Es gilt der wiederkehrende Appell, doch bitte vorsichtig mit Gas umzugehen.

Besorgt Sie die Entwicklung in der Ukraine?

Müller: Wir haben natürlich gesehen, dass die Ukraine auf russischem Boden zur Gegenoffensive angesetzt hat. Das hatte man so nicht vorhersehen können. Sie geht dort vor, wo die russischen Erdgasleitungen ihre Verdichter haben. Nicht die Erdgasinfrastruktur an sich ist umkämpft, aber das Gebiet rund um diese Infrastruktur ist auf beiden Seiten ein Kriegsgebiet. Davon unabhängig hatte die Ukraine ohnehin angekündigt, die auslaufenden Erdgasverträge für Südosteuropa nicht über den Jahreswechsel hinaus zu verlängern. Das heißt, wir wissen, dass unsere Nachbarn hier durchaus wachsam sein müssen. Insofern ist man gut beraten, in Deutschland und als Bundesregierung solidarisch wachsam zu sein. (GEA)

ZUR PERSON

Klaus Müller, geboren 1971 in Wuppertal, ist seit März 2022 Präsident der Bundesnetzagentur. Zuvor war der Grünen-Politiker seit Mai 2014 Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (VZBV). Von 2006 bis 2014 leitete er die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Davor war der Volkswirt in der Politik tätig: von 2000 bis 2005 als Umweltminister in Schleswig-Holstein, bis 2006 als Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Von 1998 bis 2000 war Klaus Müller Abgeordneter im Bundestag. (GEA)