REUTLINGEN. Seit Anfang Mai steht der tiefe Einschnitt in der Reutlinger Wirtschaftsgeschichte fest: Der wesentliche Geschäftsbetrieb des Flachstrickmaschinenherstellers Stoll wird nach über 152 Jahren am 31. Oktober 2025 eingestellt. Geschäftsführer Oliver Mathews und Betriebsratsvorsitzender Frank Wittel haben den GEA anlässlich der Fertigstellung »unserer symbolisch letzten Maschine« zu einem gemeinsamen Pressegespräch eingeladen. Beide heben dabei das Wort »Anstand« hervor. Mathews sagt: »Wir bringen alles mit Anstand zu Ende.« Die Belegschaft habe bei der Ausproduktion »gut mitgezogen«. Wittel fügt hinzu: »Die Kollegen arbeiten bis zum Schluss die Aufträge trotz ihres Arbeitsplatzverlusts zum Wohle der Kunden ab und gehen erhobenen Hauptes.«
Wittel, 58 und seit September 1984 bei Stoll, nennt drei große Reutlinger Firmen der Vergangenheit: die Maschinenfabrik zum Bruderhaus (1856-1981), die einst Maschinen für die Papierfabrikation produzierte; die Hülsen- und Spulenfabrik Emil Adolff (1877-1983), die für Garnträger für die Textilindustrie stand; und die Gustav Wagner Maschinenfabrik (1890-1993), die auf Sägemaschinen spezialisiert war. Dann stellt der Betriebsratsvorsitzende fest: »Es tut sehr weh, wenn man sich in diese Linie einreihen muss.«
Am 9. Oktober 2025 hatten etliche Stoll-Beschäftigte ihren letzten Arbeitstag. »Das ist emotional nicht ohne. Viele haben jahrzehntelang mit ihren Kollegen mehr Zeit verbracht als mit der Ehepartnerin«, sagt Wittel. Manche wollten daher in der zweiten Oktoberhälfte lieber Urlaub haben, wollten vor allem nicht am allerletzten Tag da sein müssen. »Aber wir wollten als langjähriger Weltmarktführer uns noch für ein Foto vor der symbolisch letzten Maschine, die an einen langjährigen, treuen Kunden gehen wird, versammeln, um der Welt zu zeigen, welche tollen Produkte aus Reutlingen gekommen sind«, erklärt Wittel. Beim Fototermin danach tragen viele Beschäftigte schwarze Kleidung. Den anschließenden Imbiss versteht Wittel »als Leichenschmaus«.
Wie berichtet, hatte die Unternehmensgruppe Karl Mayer (Obertshausen nahe Offenbach/Hessen), zu der Stoll seit dem Jahr 2020 gehört, im Januar angekündigt, sich aus wirtschaftlichen Gründen vom Bereich Flachstrickmaschinen, der im Wesentlichen Stoll entspricht, trennen zu wollen. Geschäftsführer Mathews, 54, hatte erläutert, die Aufgabe des »hoch defizitären Standorts Reutlingen« sei ein wichtiger Schritt, um die Zukunft der Gruppe insgesamt zu sichern.
Für 2023 hatte der Firmenverbund bei einem Umsatz von 432 Millionen Euro einen Verlust von über 70 Millionen Euro ausgewiesen. Die noch nicht veröffentlichten Daten für 2024 seien nicht besser, so Mathews, »sonst hätten wir diesen Schritt nicht ergreifen müssen«. Die Gruppe sei von 2.800 Beschäftigten zu Beginn dieses Jahres durch Stilllegungen und Restrukturierungsmaßnahmen auf aktuell gut 2.400 geschrumpft. Das Ziel sei, 2026 zur Profitabilität zurückzukehren.
»Nur mit einem Betriebsrat gibt es einen Sozialplan«
Ein Investor für die Fortführung von Stoll fand sich nicht. Daher vereinbarten das Management der Karl Mayer Stoll Textilmaschinenfabrik GmbH und der Entwicklungsfirma Karl Mayer Stoll R & D GmbH mit dem Betriebsrat, begleitet von der Industriegewerkschaft Metall, Anfang Mai einen Interessenausgleich und einen Sozialplan.
Anfang dieses Jahres arbeiteten 286 Personen für Stoll in Reutlingen. Nach den Sozialplanverhandlungen waren es 270. Ende Oktober werden es Mathews zufolge 250 sein. Davon schieden weitere 20 infolge Ruhestands, Eigenkündigungen und Aufhebungsverträgen aus. 230 bisherige Stoll-Beschäftigte wechselten gemäß Sozialplan in die Reutlinger Auffanggesellschaft Mypegasus – das Gros zum 1. November 2025, etwa 30 Personen eines für Gewährleistungsfälle und Ersatzteilversorgung für ein Jahr gebildeten Abwicklungsteams später.
Zudem sind gemäß Sozialplan Abfindungen vorgesehen, die nach Altersgruppen gestaffelt sind und sich nach Faktoren zwischen 0,25 und 0,45 Bruttomonatsentgelten pro Beschäftigungsjahr bemessen. In der Transfergesellschaft könnten die Betroffenen bis zu einem Jahr verbleiben, berichtet Wittel. Sie erhielten zwischen 80 und 85 Prozent ihrer letzten Nettoentgelte. Dies werde zu 60 Prozent von der Bundesagentur für Arbeit (Transferkurzarbeitergeld) sowie durch Aufzahlung durch das Unternehmen finanziert. Die Beschäftigten könnten Fortbildungen zu Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen besuchen. »Es gibt Mitarbeiter bei Stoll, die seit 40 Jahren keine Bewerbung geschrieben haben«, sagt Wittel. Auch Weiterbildungen, etwa zu Maschinenführern, oder andere Vorbereitungen auf neue Tätigkeiten seien möglich.
»Das Fortbildungsbudget im Rahmen des Sozialplans ist ordentlich sechsstellig. Am Ende hängt es am Mitarbeiter, was er aus den Möglichkeiten macht«, stellt Mathews fest. Die Gesamthöhe für den Sozialplan möchte der Geschäftsführer nicht nennen. Es handle sich um einen signifikanten Millionenbetrag für Abfindungen, Transfergesellschaft und Qualifizierungsangebote. »Bei allen Themen, bei denen wir uns in den Verhandlungen zunächst nicht ganz einig waren, hat sich die Familie Mayer nicht aus der Verantwortung genommen«, ergänzt Mathews.
Wittel erinnert daran, dass bei Abschluss des Sozialplans 150 der damals 270 Betroffenen über 50 Jahre alt gewesen seien, darunter 84 Personen über 58 Jahre. Daher sei dem Betriebsrat bis zu ein Jahr zusätzliche Sicherheit in einer Auffanggesellschaft und als mögliche Brücke zur (vorzeitigen) Rente ein wichtiges Anliegen gewesen. »Den Kollegen wird nun sehr bewusst, dass wir das mit Abfindungen und Transfergesellschaft noch ganz ordentlich hinbekommen haben.« Mit Blick auf die zwischenzeitlichen Kündigungen bei der Porsche-Tochter Cellforce Group GmbH (Kirchentellinsfurt) und bei der Prettl GmbH Magnet- und Schaltertechnik (Pfullingen) nebst Verhandlungen vor dem Arbeitsgericht Reutlingen, merkt Wittel an: »Nur mit einem Betriebsrat gibt es einen Sozialplan.«
Zur Finanzierung des Sozialplans berichtet Mathews über die Geschäfte bei Stoll in diesem Jahr: »Wir haben den Umsatz im Vorjahresvergleich verbessert. Unser Ziel war, so viel Lagerbestand wie möglich zu Cash zu machen. Daher haben wir im Rahmen des Möglichen abverkauft.« Allerdings habe es Preiszugeständnisse geben müssen, »daher sind wir in tiefroten Zahlen geblieben«.
Es gelinge, alle Aufträge bis Ende Oktober zu erledigen. Das Abwicklungsteam sei gebildet, und Ersatzteile seien gefertigt worden. »Bislang haben wir den Betrieb für die Ausproduktion zusammengehalten, um Chancen für einen Investor so lange wie möglich zu erhalten – leider hat sich das nicht materialisiert«, erzählt Mathews. Nun gelte es – auch für den Sozialplan –, einzelne Vermögensgegenstände zu verkaufen. Da gehe es um Maschinen und Anlagen, Lagerbestände an Rohmaterialien und Fertigwaren, Patente und Software – und schließlich auch um die Immobilien im Industriegebiet Reutlingen-West mit Nutzflächen von zusammen 40.000 Quadratmetern.
Heinrich Stoll (1847-1914) und Christian Schmidt (1844-1888) hatten am 27. Juli 1873 in Riedlingen die »Mechanische Werkstätte zur Herstellung von Strickmaschinen« gegründet. Bereits 1878 trennten sie sich wieder. Stoll machte in Reutlingen weiter, weil er dort eine bedeutende Textilindustrie vor der Haustüre hatte. Schmidt machte erst in Riedlingen weiter, verlagerte aber 1880 seine Tätigkeit nach Neckarsulm bei Heilbronn und produzierte dort erst Strickmaschinen und später unter der Bezeichnung Neckarsulmer Fahrradwerke (NSU) Fahrräder und Motorräder; es ein Vorgängerbetrieb des heutigen Audi-Standorts in Neckarsulm.
»Die mit der Fusion verbundenen Hoffnungen haben sich nicht erfüllt«
Heinrich Stoll war ein Pionier im Bau von Strickmaschinen zur Herstellung von Oberbekleidung. Er gilt als Erfinder der Links-links-Strickmaschine, mit der die Handstrickerei maschinell imitiert werden konnte. Vom Jahr 1913 an übernahmen seine Söhne Heinrich Stoll junior (1877-1924) und Hermann Stoll (1883-1956) die Geschäftsführung. 1914 hatte die Firma 280 Beschäftigte.
Prägend für die dritte Generation in der Unternehmensleitung waren Eberhard Stoll (1914-1994) und Heinz Stoll (1919-1995). Sie standen 1973 an der Spitze, als das Unternehmen mit damals 1.300 Beschäftigten sein 100-jähriges Bestehen feierte. Mit Thomas Stoll (1943-2019) und Heinz-Peter Stoll (Jahrgang 1949) standen seit 1987 Vertreter der vierten Generation der Familie Stoll an der Firmenspitze. Sie beschlossen, den Betrieb aus der Innenstadt nach und nach ins Industriegebiet West zu verlagern. 2006 und 2014 schieden sie aus der Geschäftsleitung aus.
2020 verkaufte Familie Stoll die Firma mit damals 440 Beschäftigten an die seit 1937 bestehende Karl-Mayer-Gruppe. »Die Übernahme ist ein wichtiger Schritt in unserer Wachstumsstrategie«, hieß es seinerzeit in der Pressemitteilung von Mayer. Es sollten Synergieeffekte des Spezialisten für Kettenwirkmaschinen und Stoll, dem Spezialisten für Flach- strickmaschinen, genutzt werden.
Pläne von Stoll für ein neues Kundenzentrum und ein Entwicklungszentrum im Zuge der Komplettverlagerung des Betriebs vom Stollweg nach Betzingen sind bis 2022 umgesetzt worden – zur Eröffnung des Kundenzentrums im Juli 2022 kam die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut. »Leider haben sich die mit der Fusion verbundenen Hoffnungen nicht erfüllt, vor allem weil die Nachfrage zurückgegangen ist und sich für Stoll die Wettbewerbssituation deutlich verschärft hat«, hatte Mathews bereits Ende Januar dieses Jahres erklärt. (GEA)


