REUTLINGEN. Die schwache Konjunktur wirkt sich zunehmend auf dem Arbeitsmarkt der Region Reutlingen-Tübingen aus. »Die Arbeitslosigkeit wächst. Sie entsteht derzeit in der Arbeitslosenversicherung und nicht so sehr im Bürgergeld«, sagt Markus Nill, 43, im Gespräch mit dem GEA. Der Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Reutlingen fügt hinzu, auch bei Kurzarbeit, anzeigepflichtigen Entlassungen und Insolvenzen stiegen die Zahlen. Eine Trendwende sei nicht in Sicht. Kleiner Trost, so Nill: »Die Prognose für Arbeitslosigkeit und Beschäftigung ist in unserem Agenturbezirk günstiger als die erwartete Entwicklung für ganz Baden-Württemberg.« Zudem habe sich zuletzt die Eingliederung von Geflüchteten in den regionalen Arbeitsmarkt deutlich verbessert.
Bundesweit waren im Oktober 2,791 Millionen Menschen arbeitslos – 183.000 mehr als ein Jahr zuvor. In Baden-Württemberg hatten knapp 273.000 Personen keinen Job – über 24.000 mehr als zwölf Monate zuvor. Die Agentur für Arbeit Reutlingen, zuständig für die Landkreise Reutlingen und Tübingen, verzeichnete 11.675 Arbeitslose, 1.049 mehr als ein Jahr vorher. Die Arbeitslosenquote in der Region liegt mit 3,9 (Vorjahr: 3,6) Prozent unter der auf Bundesebene (6,0 Prozent; Vorjahr: 5,7 Prozent) und auf Landesebene (4,3 Prozent; Vorjahr: 3,9 Prozent).
Zahl der offenen Stellen sinkt
Unter den 11.675 Arbeitslosen in der Region sind 54,9 Prozent Männer und 45,1 Prozent Frauen. Wie der jüngste Arbeitsmarktreport der Agentur für Arbeit Reutlingen weiter ausweist, sind unter den Arbeitslosen 44 Prozent Ausländer, 27,8 Prozent Langzeitarbeitslose (mehr als ein Jahr ohne Beschäftigung) und 34,7 Prozent 50 Jahre und ältere Menschen. 8,2 Prozent sind unter 25 Jahre alt.
Nill weist auf die hohe Dynamik am Arbeitsmarkt hin. Seit Jahresbeginn hätten im Agenturbezirk 26.895 Zugänge von Arbeitslosen 25.871 Abmeldungen gegenübergestanden. Doch allein im Oktober sei die Zahl der Zugänge mit 3.020 um 418 höher gewesen als im Vorjahresmonat. Der Bestand an gemeldeten freien Arbeitsstellen sei im Jahresvergleich um 14,5 Prozent auf 3.336 gesunken.
4.944 der 11.675 Arbeitslosen in der Region entfallen auf die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierte Arbeitslosenversicherung. Dies sind 775 oder 18,6 Prozent mehr als vor einem Jahr. 6.731 Arbeitslose erhalten steuerfinanzierte Grundsicherung (Bürgergeld). Dies sind 274 oder 4,2 Prozent mehr als vor Jahresfrist. Von September auf Oktober stieg die Zahl in der Arbeitslosenversicherung um 36, während die Zahl der arbeitslosen Bürgergeldempfänger um 53 abnahm. Im Kreis Reutlingen ist die Arbeitslosigkeit mit 7.317 Personen höher als im Kreis Tübingen (4.393). »Mit einem größeren Anteil an Industrie-Arbeitsplätzen ist der Kreis Reutlingen konjunkturanfälliger als der Kreis Tübingen«, erklärt Nill.
»Vor allem seit Beginn der zweiten Jahreshälfte ist aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung ein erhöhter Bedarf der Betriebe nach einer Leistungsberatung zur Kurzarbeit zu verzeichnen«, berichtet Nill. Zwischen September 2023 und September 2024 seien die Kurzarbeitergeld-Anzeigen im Kreis Reutlingen von sehr niedrigem Niveau auf über 4.000 Personen und im Kreis Tübingen von sehr niedrigem Niveau auf 2.000 Personen gestiegen. Besonders betroffen seien Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie.
Mehr anzeigepflichtigen Entlassungen
»Die Ausgaben für Kurzarbeitergeld in unserem Agenturbezirk lagen bis 30. September mit 5,2 Millionen Euro schon um über 30 Prozent höher als im gesamten Jahr 2023«, stellt Nill fest. Es gebe Betriebe, die nach der maximalen Kurzarbeitergeld-Bezugsdauer von zwölf Monaten nach der gesetzlich vorgegebenen dreimonatigen Unterbrechung wegen unverändert negativer Aussichten einen erneuten Bedarf signalisiert hätten.
Bis Ende Oktober hat die Reutlinger Arbeitsagentur Nill zufolge etwa drei Mal so viele anzeigepflichtige Entlassungen entgegengenommen als im Gesamtjahr 2023: Es seien insgesamt 623 Betroffene gegenüber 219 gewesen. Solche Massenentlassungsanzeigen sind für Betriebe ab 21 Beschäftigte nach ihrer Größe und der Zahl der geplanten Entlassungen vorgeschrieben. Nill teilt zudem mit, dass der von ihm geleiteten Behörde bis Ende Oktober 46 (Vorjahreszeitraum: 29) Insolvenzen bekannt geworden seien.
Während die Arbeitsverwaltung für 2025 für Baden-Württemberg von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gegenüber 2024 um 2,6 Prozent ausgehe, sei sie für Reutlingen-Tübingen mit 1,8 Prozent etwas optimistischer. Auch die Vorhersage für die Entwicklung der sozialversichungspflichtigen Beschäftigung sei mit plus 0,8 Prozent für die Region günstiger als für Baden-Württemberg (plus 0,4 Prozent). »Die Beschäftigung wird allein über Zuwanderung wachsen«, sagt Nill.
Daher freut er sich, dass die Integration von Geflüchteten aus der Ukraine und acht weiteren Herkunftsländern (darunter Afghanistan, Iran und Syrien) im Rahmen des Job-Turbos in der Region positiv verlaufe. Von Januar bis September 2024 seien 294 Ukrainer/innen in Erwerbstätigkeit oder Ausbildung abgegangen – nach 130 im Vorjahreszeitraum. Aus den acht anderen Herkunftsländern seien 636 (Vorjahr: 583) Personen nun in Arbeit oder Ausbildung. (GEA)