SONNENBÜHL. Zehn Jahre lang ruhte ein Rucksack im Schrank von Klaus Maichle. Gekauft hatte er ihn damals mit einem großen Ziel: den Jakobsweg zu gehen. Eine Ankündigung im GEA und der Besuch des beworbenen Vortrags eines damals 70-Jährigen über seinen Weg auf dem Jakobsweg machten ihm klar: »Das will ich auch.« Doch der Alltag als Ingenieur und Projektleiter ließ dem heute 65-Jährigen keine Gelegenheit, dieses Vorhaben umzusetzen. Erst mit dem Eintritt in den Ruhestand im November 2024 rückte der lang gehegte Plan in greifbare Nähe.
Zu Hause hatte er alles Liegengebliebene erledigt, seine Frau gab ihr Okay zum Vorhaben. Klaus Maichle recherchierte, holte Packliste und Rucksack aus dem Schrank. Akribisch suchte er sich, was er brauchte, zusammen. Von Sonnencreme bis zu schnell trocknender Unterwäsche: Vieles war zu bedenken. Auch die Mengen. Also ging das Aussortieren los: Die zweite Hose und der Gürtel flogen raus, Rasierschaum und Zahncreme kamen in kleinen Packungen ins Gepäck. Der große, vor zehn Jahren gekaufte Rucksack - viel zu groß. »Das Maximalgewicht sollte zehn Kilo nicht überschreiten«, sagt Maichle. Er kam auf 9,5 Kilo - »und das war nachher schon viel«, sagt er im Rückblick.
Denn alles, was man mitnimmt, muss man auch tragen. Bei Klaus Maichle hieß das: 300 Kilometer, täglich in Etappen von 20 bis 30 Kilometern. Was er auch ausmusterte: die neuen Wanderschuhe. Die hätten für schmerzhafte Blasen gesorgt. Zum Glück war das alte Schuhwerk des passionierten Bergwanderers, Gleitschirmfliegers und Radfahrers noch tauglich. Nicht mehr laufen können: das Schicksal vieler Pilger, das Klaus Maichle erspart blieb.
So war Klaus Maichle also vorbereitet, hatte Landkarte und App auf dem Handy, hatte die Route geplant, und so machte sich der Sonnenbühler im Frühjahr 2025 auf den Weg zu Fuß von Porto in Portugal bis nach Santiago de Compostela in Spanien. »Der Camino Portugues, davon die Küstenvariante, hat mich mit seiner Schönheit, Weite und den vielen Begegnungen tief beeindruckt«, berichtet Maichle. Zwischen dem 16. April und dem 3. Mai legte er die gesamte Strecke von rund 300 Kilometern ausschließlich zu Fuß zurück. Manche Pilger, so hat er's erlebt, schummeln und fahren manche Stationen mit dem Auto ab, um die begehrten Stempel im Pilgerbuch zu sammeln.
Von Anfang an war für Maichle klar: Er wollte den Weg so ursprünglich wie möglich erleben, bewusst ohne Komfort. »Ich habe in Pilgerherbergen übernachtet oder bei Privatleuten, die Quartier angeboten haben. Es war mir wichtig, den Geist des Weges zu spüren«, sagt er. Nur an drei Nächten musste er auf eine Pension oder ein Hotel ausweichen, weil in manchen Gegenden keine Herberge verfügbar war. Luxuriös sind die Pilgerherbergen tatsächlich nicht, man übernachtet in Mehrbettzimmern in Stockbetten, manchmal gibt's noch nicht mal Vorhänge, die man zuziehen kann, um ein wenig Privatsphäre zu haben. Und um 22 Uhr heißt es: Licht aus. Vor lauten Schnarchern schützte sich Klaus Maichle mit Ohrstöpseln, eine Schlafbrille half auch. Frühstück gibt's eher nicht, Klaus Maichle brach immer früh auf und trank um die Ecke einen Kaffee, spartanisch war der Proviant. Nicht verwunderlich: »Ich habe vier Kilo abgenommen.«
Den Weg erleben, den Weg spüren, auf der Suche nach Spiritualität: »Ich hatte viel Stress im Beruf«, sagt Maichle, er sehnte sich nach einer Phase der Ruhe, Zeit zum Nachdenken. »Die Herbergen, die Gemeinschaft unter den Pilgern, das einfache Leben unterwegs, all das machte die Reise zu einem unvergesslichen Erlebnis. Man begegnet Menschen aus aller Welt und aus allen Altersklassen, doch alle sind aus einem ähnlichen Grund unterwegs. Das verbindet«, sagt er. Ganz stressfrei war die Zeit dann aber doch nicht: zum Beispiel, als er kein freies Bett in einer Herberge fand, drei Absagen erhielt und sich eine Alternativ-Unterkunft suchen musste. Viele Pausen durfte er sich auch nicht erlauben, damit er seine Etappe schaffte. Und dann wiederum war er stellenweise allein auf dem Weg und konnte die Landschaft, das Meer genießen. »Es gab so schöne Ecken, dass ich dachte, ich bleibe dort. Ich habe viel gesehen in meinem Leben, aber manchmal sind mir die Tränen gekommen«, weil er so begeistert, überwältigt war.
Zweifel, ob sein Pilgerweg-Abenteuer die richtige Entscheidung war, kamen ihm anfangs schon. Es lag etwas Unbekanntes vor ihm, und an den ersten Tagen regnete es, am Meer stürmte es, Hagel fiel. Trotz Regenschutz waren er und der Inhalt seines Rucksacks durchnässt. Alle Zweifel waren weggeblasen, als sich das Wetter besserte, als die ersten Tage mit müden Beinen - aber zum Glück ohne Blasen an den Füßen - vorbei waren. Er genoss die Zeit, die er komplett allein unterwegs war, aber auch die, die er ein Stück des Weges gemeinsam mit anderen lief. Aufhören, abbrechen, aufgeben - das kam für ihn nicht infrage. Und manche Mühen muss man auf sich nehmen, um gestärkt und zufrieden daraus hervorzugehen.
35 Kilometer vor dem Ziel übernachtete Maichle ein letztes Mal. Morgens um 7 Uhr machte er sich auf die letzte Etappe. Die Türme der Kathedrale von Santiago von Weitem zu sehen - das war ein Glücksgefühl. »Als ich nach all den Tagen und langen Wegen die Türme der Kathedrale sah, war das ein zutiefst bewegender Moment.« Ein besonders ergreifendes Erlebnis war für Klaus Maichle dann die Ankunft in Santiago de Compostela. »Auf dem historischen Platz vor der Kathedrale herrschte eine ausgelassene und feierliche Stimmung. Pilger aus aller Welt lagen sich in den Armen, lachten, weinten, tanzten und feierten das Erreichen ihres Ziels. Es war ein Ort der Freude, des Ankommens, ein Platz voller Emotionen und Dankbarkeit.« Der Besuch der Pilgermesse in der mächtigen Kathedrale mit Hunderten von Pilgerinnen und Pilgern aus aller Welt sei für ihn einer der Höhepunkte gewesen. »Die gemeinsame Stille, das Gebet, der Duft von Weihrauch, das Läuten der Glocken, das Gefühl, angekommen zu sein - das werde ich nie vergessen.«
Auch die letzte Etappe hatte Maichle noch fest eingeplant. Die zusätzlichen noch rund 90 Kilometer von Santiago bis zum Kap Finisterre, dem legendären »Ende der Welt«. Doch das Wetter machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
Es waren starke Unwetter vorhergesagt. »Da musste ich schweren Herzens den Fußweg abbrechen und bin mit dem Bus ans Kap gefahren. Am Kap zu stehen, mit dem weiten Atlantik vor Augen, war für mich ein stiller Abschluss meiner Pilgerreise. Das war unbeschreiblich.« Und weil ein Ende ein Anfang ist, will Klaus Maichle im kommenden Frühjahr wieder auf den Jakobsweg gehen, dann will er auf dem Camino Primitivo laufen. Und der hat es in sich: Es geht stetig bergan und bergab.
Klaus Maichle möchte mit seinem Erlebnis andere ermutigen, eigene Träume nicht aufzugeben, auch wenn sie manchmal warten müssen - bei ihm waren es am Ende zehn Jahre. »Es ist nie zu spät loszugehen«, sagt er mit einem Lächeln. (GEA)