Logo
Aktuell Geschichte

Wie aus sechs Albdörfern St. Johann wurde

Vor 50 Jahren wurde aus sechs Albdörfern die Kispelgemeinde St. Johann. Drei Bürgermeister erzählen.

Alle Teilorte von St. Johann bekommt man schwer aufs Bild. Die Musik spielt aber nicht nur in Würtingen.  FOTO: GROHE
Alle Teilorte von St. Johann bekommt man schwer aufs Bild. Die Musik spielt aber nicht nur in Würtingen. FOTO: GROHE
Alle Teilorte von St. Johann bekommt man schwer aufs Bild. Die Musik spielt aber nicht nur in Würtingen. FOTO: GROHE

ST. JOHANN. Eine Liebesheirat war es nicht, Goldene Hochzeit wurde trotzdem gefeiert (eine Möglichkeit zur Scheidung hätte es eh nicht gegeben). Und nach anfänglichen Schwierigkeiten ist es sogar doch noch eine ganz glückliche Beziehung geworden – mit allen Höhen und Tiefen, die der Alltag eben mit sich bringt. Die Gemeinde St. Johann feiert in diesem Jahr, wie etliche andere Nachbarn auch, ihr 50-jähriges Bestehen.

Auf den Zusammenschluss und seine komplizierte Vorgeschichte blickten die Gemeinde und ihr noch junger Geschichtsverein in einer gemeinsamen Veranstaltung im Bürgersaal der Alten Schule in Bleichstetten zurück. Kreisarchivar Dr. Marco Birn hielt einen kurzen, launigen Vortrag, anstelle der üblichen Reden gab es ein spannendes Dreiergespräch: Bürgermeister Florian Bauer und seine Amtsvorgänger Eberhard Wolf und Raimund Speidel stellten sich den Fragen von Moderator Dr. Joachim Kuolt und gaben den vergangenen fünf Jahrzehnten auf diese Weise eine ganz persönliche Note. Grafiker Wolfgang Schiller hat die vom Geschichtsverein verfassten und gesammelten Texte und Bilder in Form und aufs Papier gebracht und stellte die so entstandene Jubiläumsfestschrift in aller Kürze vor (ein ausführlicher Bericht zu dieser Publikation folgt).

Effizientere Verwaltungsräume schaffen

»Wo ganget ihr na?« Das Motto von Marco Birns Vortrag ist zugleich auch die zentrale Frage, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren fast alle Orte in Baden-Württemberg stellen mussten, wie Birn verdeutlichte. »Es ging darum, effizientere Verwaltungsräume zu schaffen«, erläuterte der Kreisarchivar. Ziel war es, Gemeinden mit einer Einwohnerzahl von etwa 8.000 zu bilden, aus über 3.000 Gemeinden sollten etwa 1.100 werden. So ganz einfach war das sicher nirgends. Birns Einblicke in die Akten von damals und die Schilderungen von Raimund Speidel, der 1972 zum Bürgermeister der damals noch selbstständigen Gemeinde Würtingen und 1975 der neuen Gemeinde St. Johann gewählt wurde, lassen allerdings den Schluss zu, dass es auf dem Kispel doch etwas komplizierter gewesen sein könnte als anderswo.

St. Johanns Bürgermeister Florian Bauer (Mitte) mit seinen Vorgängern Eberhard Wolf (links) und Raimund Speidel.  FOTO: SCHRADE
St. Johanns Bürgermeister Florian Bauer (Mitte) mit seinen Vorgängern Eberhard Wolf (links) und Raimund Speidel. FOTO: SCHRADE
St. Johanns Bürgermeister Florian Bauer (Mitte) mit seinen Vorgängern Eberhard Wolf (links) und Raimund Speidel. FOTO: SCHRADE
»Das Auto des Gewählten verlor während des Wahlkampfs Luft in den Reifen«

Während die Technokraten in den übergeordneten Behörden, so Birn, viele Buntstifte verschlissen, indem sie die Kreise möglicher Verwaltungsräume immer und immer wieder neu skizzierten, wurde in den Ortschaften, um die es ging, heftig diskutiert – vorzugsweise im Gächinger Hirsch. Was im launigen Rückblick erheitert, war damals bitterer Ernst. Bis aus Würtingen, Gächingen, Ohnastetten, Bleichstetten, Upfingen und Lonsingen »St. Johann« wurde, dauerte es Jahre. 1968 wurde die Gemeindereform vom Land angeordnet, zum 1. Januar 1975 endete sie per Gesetzeszwang. Diese Zeit brauchten die Orte auf dem Kispel auch, um sich und ihre Interessen zu sortieren – zumal die parallel laufende Kreisreform auf ihrem Terrain eine besondere Rolle spielte: 1973 wurde der Kreis Münsingen in den Kreis Reutlingen eingegliedert und eine alte Grenze aufgehoben. Die heutigen St. Johanner Teilorte Gächingen, Lonsingen und Upfingen hatten bis dahin zum Kreis Münsingen gehört.

Bleichstetter lassen sich eingemeinden

Wer fühlt sich zu wem zugehörig? Diese Frage beschäftigte die Menschen in den Orten damals, als Erste beantworteten sie die Bleichstetter. Nach »ziemlichen Geburtswehen« ließen sie sich bereits zum 1. Januar 1972 in die Gemeinde Würtingen eingemeinden, formuliert Raimund Speidel. Der Altbürgermeister hat, wie auch Eberhard Wolf und Florian Bauer, seine Erinnerungen in einem Beitrag für die Jubiläumsfestschrift festgehalten. »Ein kommunales Abenteuer« hat er seinen Artikel überschrieben – treffend, denn bis die Gemeinde St. Johann in ihrer heutigen Form begründet war, sollte nach Bleichstettens Anschluss noch viel Wasser den Bach runtergehen.

»Wo ganget ihr na?« Die Frage wurde in den sechs Dörfern unterschiedlich beantwortet. Die einen fühlten sich Urach zugehörig, die anderen wollten lieber zu Münsingen oder Gomadingen. Wäre es nach den Ohnastettern gegangen, wären sie heute Lichtensteiner – nach einer Bürgeranhörung wurde ein Vertrag zur Eingliederung mit Unterhausen unterschrieben, vollzogen wurde diese nie.

1974 erließ das Land die Schlussgesetze zur Gemeindereform und zwang die Nachzügler damit auch ein bisschen zu ihrem Glück. In einer Bürgeranhörung stimmten immerhin 66 Prozent für eine neue Einheitsgemeinde mit Sitz in Würtingen. Zum Bürgermeister wurde Raimund Speidel mit gerade mal 25 Jahren und 127 Stimmen Vorsprung vor der Konkurrenz gewählt. Gekämpft wurde mit harten Bandagen: »Sogar das Auto des Gewählten verlor während des Wahlkampfs die Luft in den Reifen«, berichtet Speidel. Doch auf welchen Namen sollte das Kind nun hören? Die Würtinger hätten wohl nichts dagegen gehabt, wenn es beim gesetzlich festgelegten Namen Würtingen geblieben wäre, die anderen aber schon. Wieder kam es zum Bürgerentscheid, bei dem die Bürger auch nach Vorschlägen gefragt wurden. »Neu Moskau«, »Händelstetten« oder »Speidelhort« – an Kreativität und bisweilen auch Zynismus mangelte es den künftigen St. Johannern nicht, die am 14. März 1976 eine denkbar knappe Entscheidung fällten: Mit nur 40 Stimmen Vorsprung machte der Name St. Johann – er ist historisch und bezieht sich auf das Gestüt – das Rennen.

Die Menschen bleiben Gächinger, Upfinger oder Bleichstetter

Ist zusammengewachsen, was zusammengehört? Speidel sieht es so: »Man konnte nicht einfach eine Gemeinde St. Johann gebären, die Menschen bleiben Gächinger, Upfinger oder Bleichstetter, sie sind stolz auf ihre Vergangenheit. Mit der Gemeindereform sollte das Selbstbewusstsein nicht verloren gehen. Man hat gemeinsame Erfolge erzielt, aber auch miteinander konkurriert.« Fast drei Jahrzehnte lang, von 1972 bis 1999, war Speidel Bürgermeister. Noch länger, insgesamt 36 Jahre, begleitete Eberhard Wolf die Geschichte und die Geschicke der Gemeinde – erst als Kämmerer unter Speidel, von 1999 bis zu seinem regulären Ruhestand 2015 dann als Bürgermeister.

»Ein schwerer Schritt« war für Upfingens Bürgermeister Gotthilf Schepper (rechts) die Unterzeichnung der Vereinbarung zur freiw
»Ein schwerer Schritt« war für Upfingens Bürgermeister Gotthilf Schepper (rechts) die Unterzeichnung der Vereinbarung zur freiwilligen Vereinigung mit Würtingen 1974. Raimund Speidel war damals Bürgermeister von Würtingen und wurde 1975 Bürgermeister der Gesamtgemeinde St. Johann. FOTO: GEA-ARCHIV
»Ein schwerer Schritt« war für Upfingens Bürgermeister Gotthilf Schepper (rechts) die Unterzeichnung der Vereinbarung zur freiwilligen Vereinigung mit Würtingen 1974. Raimund Speidel war damals Bürgermeister von Würtingen und wurde 1975 Bürgermeister der Gesamtgemeinde St. Johann. FOTO: GEA-ARCHIV

Zu befassen hatte sich Wolf auch mit gewissen Nachwehen der Gemeindereform: Über die Ortschaftsverfassung und damit über die Frage nach Sinn, Berechtigung und Kompetenz von Ortschaftsräten wurde während seiner 16 Jahre Amtszeit immer wieder erbittert gestritten. Sein Nachfolger Florian Bauer hat die unendliche Geschichte geerbt, 2018 gab es mehrere Bürgerversammlungen. Ortschaftsräte gibt’s jedenfalls bis heute, Probleme auch. Bauer thematisiert in seinem Beitrag spezifische Herausforderungen des Ländlichen Raums: sinkende Einwohnerzahlen und – damit einhergehend – die drohende Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, die 2015 hohe Wellen schlug. Kein Kindergarten wurde geschlossen, »aus heutiger Sicht die richtige Entscheidung«, so Bauer.

»Ein kluger Mann hat mal gesagt, aus sechs armen Albdörfern wird keine reiche Gemeinde«

Ob er lieber in den 1980er-Jahren Bürgermeister gewesen wäre? Grundsätzlich wünsche er sich, "dass man der Verwaltung und dem Gemeinderat etwas mehr Glauben schenkt", antwortet Bauer, der den Zeiten ohne Internet auch Positives abgewinnen kann. Sein oft gehörter Lieblingssatz, erklärt er ironisch, sei: "Ich hab’ das mal gegoogelt." Bei Bauer kommt das nicht so gut an: "In Zeiten, in denen Sachverhalte immer komplexer und Entscheidungen immer schwieriger werden, ist das unangemessen." Und wenn er einen Wunsch frei hätte? "Auch wenn’s schnöde und langweilig klingt: Mehr Geld." St. Johann hat mit chronisch knapper Kasse zu kämpfen. »Ein kluger Mann hat mal gesagt, aus sechs armen Albdörfern wird keine reiche Gemeinde«, zitiert Bauer. Sein Nebensitzer Speidel nickt schmunzelnd und wissend. (GEA)