MÜNSINGEN-AUINGEN. War es ein politischer Mord? Vieles deutet darauf hin, doch bleibt der Fall von Wsewolod Alexandrowitsch Blumenthal-Tamarin, der heute vor 80 Jahren starb, bis heute rätselhaft- ein »Cold Case« aus den ersten Tagen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es gibt einen mutmaßlichen Mörder, auf den viele Indizien hindeuten, aber verurteilt wurde er nie. Am 10. Mai 1945 wurde der gebürtige Russe Wsewolod Blumenthal-Tamarin, der damals als Untermieter einer deutschen Familie in Münsingen-Auingen lebte, am hellichten Tag im Wald schwer verletzt. Neun Tage später, am 19. Mai 1945, erlag er seinen Kopfwunden im Lazarett des Alten Lagers. Wer war das Opfer? Was genau ist passiert? Und wer hatte ein Interesse daran, den Russen nur zwei Tage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht umzubringen?
Im Stadtarchiv Münsingen gibt es eine schmale Akte zum Fall Blumenthal, mit der sich Roland Deigendesch - früher Stadtarchivar in Münsingen, jetzt in Reutlingen - schon vor Jahren befasst hat. Damals interessierte sich ein russisches Filmteam für den Fall. Offenbar war und ist Blumenthal eine Berühmtheit in Russland. Geboren wurde er als Kind einer bekannten Schauspielerfamilie am 16. Juni 1881 in Sankt Petersburg. Sein Großvater väterlicherseits war Deutscher - ein Erbe, mit dem sich Blumenthal identifizierte und offen dazu bekannte. Er trat in die Fußstapfen seiner Eltern, absolvierte die Moskauer Theaterschule und kam ans Theater nach Charkiw in der Ukraine. Dort geriet er 1918/1919 in die Wirren des russischen Bürgerkriegs, wo er sich eindeutig politisch positionierte: Im Krieg Rot gegen Weiß stellte sich Blumenthal auf die Seite der Konservativen und gegen die Kommunisten.
Gesuchter Anti-Kommunist
Er muss ein hervorragender Schauspieler gewesen sein, jedenfalls wurden ihm seine »Weißgardisten-Eskapaden«, wie es in einem russischen Wikipedia-Eintrag heißt, verziehen. Blumenthal wirkte, obwohl politisch unliebsam, weiterhin als Schauspieler und ging auf Tournee. 1942 brachte ein Aufruf im Radio das Fass doch noch zum Überlaufen: Er rief seine Landsleute in deutsch besetzten Gebieten dazu auf, das stalinistische Regime nicht zu verteidigen und sich zu ergeben. Dafür wurde er vom Obersten Gerichtshof der UdSSR zum Tode verurteilt. Er zog zunächst nach Königsberg und schließlich nach Berlin, wo er auch öffentlich auftrat.
Der Auinger Kriminalfall beginnt »zur Zeit des Umsturzes«, wie Erna Werner, geborene Krüger, im Juni 1949, vier Jahre nach dem Mord, zu Protokoll gab. Im Mai 1945 standen das Alte Lager und das Lazarett bereits unter französischem Kommando, Blumenthal hat sich in der unmittelbar benachbarten Siedlung, dem sogenannten Vorlager, niedergelassen. Wie und warum er nach Münsingen kam, ist unklar, Roland Deigendesch hat aber eine Vermutung: Anfang des Jahres 1945 war hier ein Teil der Russischen Befreiungsarmee (ROA) von General Andrej Wlassow stationiert, die mit der Wehrmacht kollaborierte. Gut möglich also, dass der verfolgte Anti-Stalinist und Deutschland-Sympathisant Blumenthal im Fahrwasser der Wlassow-Armee auf die Alb kam.
Schwer verletzt im Wald gefunden
Bei Familie Werner wohnte er zur Untermiete in einem Haus in der Schillerstraße, heute Rametshalde. Er war nicht alleine: Erna Werner nennt in ihrer Aussage nicht nur seine Ehefrau Inna, sondern auch noch »einen Pflegesohn und eine Pflegetochter«. Die Pflegetochter lässt sich zweifelsfrei anhand der Unterlagen identifizieren, sie hieß Tamara. Der Pflegesohn ist in Wirklichkeit allerdings kein Pflegesohn, sondern ein Neffe, Igor - ein Kriegsveteran, der politisch eine andere Position hatte als sein Onkel: Igor stand auf der Stalins. Er spielt, was mögliche Hypothesen zur Aufklärung des Falls angeht, eine Schlüsselrolle. Die beiden Männer, schreibt Erna Werner, seien »öfters zusammen zum Holzsammeln in den nahen Wald« gegangen. »Beide kamen eines Tages nicht mehr zurück.«
Eine ausführlichere Schilderung, die in Details abweicht, stammt von Inna Blumenthal - zu Papier gebracht ebenfalls erst vier Jahre nach der Tat. Anlass dazu, die Sache wieder aufzurollen, gaben damals Innas Bemühungen, eine Sterbeurkunde ihres Mannes zu erhalten. Offenbar benötigte sie diese für ihre Auswanderung in die USA. In einer eidesstattlichen Erklärung schildert die Witwe die Geschehnisse, wie sie ihr in Erinnerung geblieben sind. Ihr Mann habe gegen 10 Uhr einen Spaziergang unternommen, als er zum Mittagessen nicht wieder zu Hause gewesen sei, habe sich ihre Pflegetochter Tamara Sorgen gemacht und sei aufgebrochen, um ihn zu suchen. »Da wir uns immer während der Fliegerangriffe im Walde aufhielten, wo auch felsenartiges Gestein vorhanden ist, dachte Tamara, er hätte vielleicht dort aus Unachtsamkeit einen Unfall gehabt«, schreibt Inna Blumenthal.
Was hat der Neffe Igor damit zu tun?
Die Stieftochter eilte zu besagter Stelle: »Sie fand meinen Mann dort mit dem Gesicht nach unten zeigend am Boden liegend. Er hatte eine große Wunde am Hinterkopf.« Tamara lief nach Hause, um Hilfe zu holen. Er wurde ins Lazarett im Alten Lager gebracht, wo er am 19. Mai seinen schweren Verletzungen erlag. Die französische Polizei, berichtet Inna Blumenthal weiter, sei vor Ort gewesen, aber: »Eine Vernehmung meines Mannes konnte nicht zustande kommen, da durch diesen Vorfall seine gesamte rechte Seite gelähmt war.« Weitere Nachforschungen seien ergebnislos geblieben. Eine Theorie haben die Witwe und die Pflegetochter allerdings: »Unsere Ansicht ist, dass der Tod meines Mannes durch politisch andersgesinnte Russen herbei gerufen wurde. Mein Mann war bekannter Anti-Kommunist.«
Inna Blumenthal hatte also einen Verdacht. Einen Verdächtigen aber nennt sie zumindest in diesem Dokument nicht - und auch der Neffe Igor taucht in ihrer Schilderung nicht auf. Zufall oder Absicht? Hat der Neffe seinen Onkel ermordet? Eine mögliche Antwort darauf hat Roland Deigendesch in einem 2007 erschienen Buch »Teatral'nyj detektiv. Ljubov i kovarstvo« (deutsch: »Theater-Detektiv. Liebe und Kabale«) des russischen Anwalts und Investigativjournalisten Arkadij Waksberg gefunden. Er hat sich mit der Aufarbeitung der Sowjetgeschichte befasst und ist dabei auf den Fall Blumenthal gestoßen. 1992 trat das von Boris Jelzin auf den Weg gebrachte Gesetz »Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressalien« in Kraft, auch der Konterrevolutionär Blumenthal wurde in diesem Zuge rehabilitiert, das Todesurteil von 1942 wurde aufgehoben.
Geheimdienst-Dokumente geben Aufschluss
Teil des Verfahrens war auch die Ermittlung der Todesursache. Waksberg verweist auf ein Dokument des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation (FSB). Darin heißt es: »Ermordet in Münsingen am 10. Mai 1945 unter ungeklärten Umständen.« In Waksbergs Version der Geschichte ist der Neffe Igor ein Agent, ein Auftragskiller, von dem es hießt, er sei eigentlich ins »Reich« geschickt worden, um Hitler zu ermorden. Die Formulierung »ungeklärte Umstände« sei das Pseudonym für Igor Miklaschewskij. Mehrere Bewohner der Siedlung - konkret benannt werden sie nicht - hätten Igor am Tattag»Hals über Kopf« in Richtung des Lagers laufen sehen. Auf Zurufe habe er nicht reagiert. Deshalb hätten die Bewohner Inna und Tamara alarmiert, woraufhin beide in den Wald gelaufen seien, um Blumenthal zu suchen.
Waksbergs sehr plastische Schilderung der Ereignisse - wie viel davon ist real, wie viel davon ist Fantasie? - liest sich so: »Bereits nach wenigen Schritten stießen sie auf den im Blut liegenden Körper Blumenthals. Er lebte, war jedoch nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen. Das Gras ringsum war stark niedergetreten, drei Schritte entfernt lag Blumenthals künstliches Gebiss sowie einzelne Zahnprothesen. Alles zeugte davon, dass der Verwundung ein grausamer Kampf vorausgegangen war.«
Blumenthal wurde ins nahe Lazarett gebracht, der Arzt schreibt laut Waksberg die Diagnose: »Der Schädel wurde mit einem stumpfen Gegenstand, etwa einem Beilrücken, eingeschlagen. Keine Schusswunden.« Igor war und blieb verschwunden. Als Blumenthal für einige Zeit bei Bewusstsein war, habe Inna nach dem Täter gefragt. Blumenthal habe lange geschwiegen und dann gesagt: »Wozu mußt du das wissen? Dann quälst du dich nur noch mehr.« War der Mord an Blumenthal also ein politischer Auftragsmord, verübt vom Neffen am eigenen Onkel? Die Vermutung liegt nahe, die Rekonstruktion Waksbergs ist plausibel - endgültige Gewissheit im Cold Case Blumenthal aber gibt es nicht. Bestattet wurde er auf dem Auinger Gemeindefriedhof, die Grabstätte wurde in den 1980er-Jahren abgeräumt. (GEA)