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Aktuell Bundestagswahl

Warum liegt in Münsingen die AfD auf Platz 1?

Die AfD hat sich in Münsingen vor die Union geschoben - das ist in keiner anderen Reutlinger Wahlkreis-Gemeinde passiert. Bundespolitiker, Bürgermeister, Münsinger Bürger und der AfD-Direktbewerber suchen aus verschiedenen Blickwinkeln heraus nach Erklärungen.

In Münsingen wurde die AfD bei der Bundestagswahl stärkste Kraft.
In Münsingen wurde die AfD bei der Bundestagswahl stärkste Kraft. Foto: Maria Bloching
In Münsingen wurde die AfD bei der Bundestagswahl stärkste Kraft.
Foto: Maria Bloching

MÜNSINGEN. In Münsingen liegt die AfD bei den Zweitstimmen knapp, aber immerhin vor der Union, dann kommt lange nichts. Die Stadt hat seit 1997 mit Mike Münzing einen sozialdemokratischen Bürgermeister, ist beziehungsweise war eine Hochburg der Liberalen, immer auch mit einer starken Union. Die Gemeinde mit ihren 14 Stadtteilen ist ein Mix aus städtischen und ländlichen Strukturen. Warum konnte sich ausgerechnet hier - als einzige Kommune im Wahlkreis Reutlingen und weit darüber hinaus - die AfD nach vorne schieben?

Der Abgeordnete: »Da ist ein Ergebnis, dass keinen kalt lässt«, sagt Michael Donth. Der Bundestagsabgeordnete der CDU hat im Wahlkreis Reutlingen mit 38,5 Prozent der Stimmen ein sehr gutes Wahlergebnis erreicht und im Vergleich zur Wahl 2021 um 5,9 Prozentpunkte zugelegt. Dass die Union bei den Zweitstimmen ausgerechnet in Münsingen hinter der rechten Konkurrenz landete, macht dem ehemaligen Bürgermeister aus dem nicht weit entfernten Römerstein Sorgen. Der Blick auf die Wahlbezirke macht klar, dass im Kirchtal mit einem hohen Anteil von Russlanddeutschen die AfD überdurchschnittlich abgeschnitten hat. Diese Community sei in Münsingen schwer erreichbar, sagt Donth, Strukturen wie einschlägige Vereine gibt es nicht. Die Versuche, über soziale Medien an diese Wählergruppe zu kommen, hätten offensichtlich nicht gefruchtet. Aber die AfD hat nicht nur im Kirchtal gepunktet. Donth zitiert Alexander Dobrindt: »Die AfD kann man nicht verbieten, man muss sie wegregieren«, und setzt auf die Zukunft mit einer unionsgeführten Bundesregierung.

Der Bürgermeister: »Eines ist sicher, diese Wahl hat unseren Wahlkreis geschwächt«, sagt Mike Münzing: Von vier Abgeordneten blieben nur noch zwei (tatsächlich sind es drei: Michael Donth, Anne Zerr (Linke) sowie Sieghard Knodel von der AfD), übrig, schlecht für die Region, da die Abgeordneten bisher überparteilich gut zusammengearbeitet hätten. Noch mehr beschäftigt den Münsinger Bürgermeister, was eine Mehrheit der Wähler bewegt hat, ausgerechnet in Münsingen die AfD zu wählen. »Wo fehlt hier was«, fragt er, »und was gibt es für Zukunftsperspektiven mit einer Partei ohne Interesse an einem gedeihlichen Miteinander, dafür dem Willen, die Demokratie zu diskreditieren?« Münsingen hat eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten bundesweit, die Zahl der Flüchtlinge hat sich seit 2015/16 mehr als halbiert, Probleme mit Bürgern aus 92 Nationen gibt es keine und wenn, werden sie direkt gelöst. Für Kinderbetreuungsplätze gibt es keine Wartelisten, die ärztliche Versorgung liegt bei 108 Prozent, der Versorgungsgrad mehr als erreicht. Auch Wohnungen sind zu finden: »Ich finde das Ergebnis mehr als irritierend und weiß im Augenblick nicht, was die Stadt noch tun kann. Inhaltlich kann ich es nicht nachvollziehen.« Die scheidenden Abgeordneten Pascal Kober und Beate Müller-Gemmeke seien gerade auf der Alb präsent gewesen. »Beate hat sich buchstäblich einen abgestrampelt«, was man von den AfD-Kandidaten nicht behaupten könne. Münzing zieht das Fazit: »Die demokratische Mitte muss sich jetzt finden.«

Der Vereinsaktive: Paul Jörg ist aktiv im Deutschen Roten Kreuz und beim Albverein in Münsingen, kommt viel herum, redet mit den Leuten und hat Einblick in soziale Themen. Den Aufstieg der Rechten, aber auch der linken Parteien sieht er langfristig: »Schläfer«, Bürger, die radikale Parteien wählen würden, beobachtet er schon länger, von den etablierten Parteien fühlten sie sich schon seit Jahren vergessen. Die Zuwanderung sei hier ein Thema, aber er glaubt nicht, dass das alles Ausländerfeinde sind. Migranten kämen »nicht an die Arbeit«, hat er gehört. Manche, weil sie sich nicht integrieren wollen. Aber oft eben auch, weil sie nicht dürfen. »Das geht nicht, das dürft ihr nicht«, bekommen Arbeitssuchende, aber auch Arbeitgeber zu hören. Der Albverein hatte Flüchtlinge bei der Wacholderheide eingesetzt, für symbolische 1,10 Euro. »Das hat gut geklappt, dann kam das Sozialamt und sagte: Wir dürfen euch nur noch 85 Cent bezahlen.« Die erste Reaktion seiner Helfer: Dann hören wir auf! »Versteh' ich«, sagt Jörg, »hätte ich auch gesagt.« Sie seien trotzdem weiter gekommen, das ganze zeige trotzdem einen Systemfehler auf: immer mehr Gesetze, immer mehr Verordnungen, auch für Unternehmen, die logische Entscheidungen blockierten. Gesetze mit Verfallsdatum wären vielleicht ein Weg aus dem Paragrafendschungel, meint Jörg, allerdings zweifelnd. Bei den Unzufriedenen habe sich über lange Jahre der Eindruck aufgebaut, dass der politische Wille zu Veränderungen - auch im Kleinen - völlig fehle.

Die Bürger: Die Jugend auf dem Land wählt rechts, das hat Bürger aus den Münsinger Teilgemeinden nicht überrascht. Entsprechende Äußerungen haben sie vor der Wahl oft genug gehört, »das hat sich angedeutet«. Am Stammtisch wird's klar: Die Älteren bleiben bei den Traditionsparteien, die Jungen suchen nach Alternativen. Auch wenn es den Jugendlichen in aller Regel gut gehe, meint einer. Ärger auf dem Land gebe es wegen der Regelungswut der Ampel, ob gerechtfertigt oder nicht: Heizungsgesetz, Verbrennerverbot, teure Bauvorschriften. »Auf dem Land kommt das nicht gut an«, ergänzt ein anderer. Allerdings bezweifelt er, dass die Jungwähler und »Junggebliebenen« wirklich die Wahlprogramme ihrer Alternativen studiert haben: »Man ist gegen das, was ist, und den Ärger, den man kennt. Ob andere Parteien umsetzbare und finanzierbare Lösungen haben, ist erstmal nicht so wichtig.« Mit Blick auf die 51 Prozent AfD-Wähler im Kirchtal sagt er: »Die Russlanddeutschen finden Putin halt cool. Dass sie in ganz, ganz entfernter Zukunft mit einer nationalistischen Regierung vielleicht massive Probleme bekommen, sehen sie nicht.« Ein weiterer wichtiger Grund für das starke Abschneiden auf dem Land sei die Unzufriedenheit der Landwirte, besonders seit den Bauernprotesten: »Da hat sich einiges angestaut,« da ist man sich in den ländlichen Teilorten einig. Die neue Regierung solle sich besser eines auf die Fahnen schreiben: Sich um das zu kümmern, was die Menschen wirklich bewegt. Und das seien zurzeit die Themen Wirtschaft und Arbeitsplätze, Bauen, aber eben auch Migration.

Der Direktbewerber: Rudolf Grams, der als Direktkandidat für die AfD im Wahlkreis angetreten war, freut sich über den Erfolg in Münsingen. Bisher gebe es hier noch keinen AfD-Ortsverband, eine Gründung strebe die AfD hier aber genauso an wie in Grams' Heimatstadt Metzingen. Warum die Zustimmung zu den Positionen der AfD in Münsingen überdurchschnittlich hoch ist? Den einen Grund gebe es aus seiner Sicht nicht, »es ist ein Mix aus allem«, sagt er, geht dann aber doch etwas ins Detail. Bei der Protestveranstaltung gegen die Schließung er Notfallpraxis in der Albklinik vor einem Monat war Grams dabei. »Die Leute haben das Gefühl, dass sie von der Regierung aus Geldmangel im Stich gelassen werden«, schildert er seinen Eindruck. Unzufriedenheit spielt der AfD in die Karten, das ist auch beim Thema Windkraft so. Grams bemüht die vielzitierte »Verspargelung der Alb«, spricht von »Versündigung an Umwelt- und Naturschutz«. Kritiker der Energiewende und Leugner des Klimawandels dürften sich von der AfD abgeholt fühlen - und Windkraft ist auf der Alb nun mal ein großes Thema. Allerdings nicht nur in Münsingen, wo es bisher vergleichsweise wenige Proteste gab. (GEA)