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Warum der Trochtelfinger Bernhard Klingenstein ein lebendiges Lexikon ist

Er kennt Trochtelfingen und dessen Geschichte wie kein anderer: 20 Jahre war Bernhard Klingenstein der Vorsitzende des Trochtelfinger Geschichtsvereins. Jetzt ist er zurückgetreten.

20 Jahre war Bernhard Klingenstein Vorsitzender, jetzt ist er Ehrenmitglied des Geschichts- und Heimatvereins Trochtelfingen.
20 Jahre war Bernhard Klingenstein Vorsitzender, jetzt ist er Ehrenmitglied des Geschichts- und Heimatvereins Trochtelfingen. Foto: Cordula Fischer
20 Jahre war Bernhard Klingenstein Vorsitzender, jetzt ist er Ehrenmitglied des Geschichts- und Heimatvereins Trochtelfingen.
Foto: Cordula Fischer

TROCHTELFINGEN. Mindestens halb Trochtelfingen kennt Bernhard Klingenstein, in vielen Wohnzimmern und Küchenstuben hat er gesessen, hat Fragen gestellt, hat sich Erinnerungen und Familiengeschichten, Anekdoten und Interessantes über ehemalige Bewohner, deren Leben und ihre Häuser erzählen lassen. Kaum jemand kennt Trochtelfingen so gut wie Bernhard Klingenstein. 1947 geboren, stammt er selbst aus einer alteingesessenen Trochtelfinger »Dynastie« und ist seinem Städtle immer treu geblieben, selbst, als er anderswo weilte.

Die Klingenstein-Familien stammen vom Besitzer der Äußeren Mühle ab, und daraus haben sich einige Klingenstein-Zweige gebildet. »Ganz kurz gesagt«, so Bernhard Klingenstein, die »Versippung« sei recht kompliziert und schwer zu beschreiben. Sein Urgroßvater war Landwirt, Staigbauer genannt. Der Hof befand sich dort, wo heute die Bushaltestelle am Friedhof ist. Sein Vater wurde Bäcker, arbeitete in Tübingen, dann baute er in den 1930er-Jahren in ganz Deutschland Stromleitungen, bis er 1939 eingezogen wurde. Allein dies ist eine spannende Geschichte - vielleicht widmet der Geschichts- und Heimatverein ihr einen Platz im Museum oder in den Geschichtsblättern.

Die Erforschung der Trochtelfinger Geschichte, diese zu bewahren und zu verbreiten: Irgendwie wurde das Bernhard Klingenstein - fast - in die Wiege gelegt. Zumindest in Kindertagen entstand das Interesse dafür, und das ist genau so eine Anekdote, wie sie Bernhard Klingenstein, der jetzt seinen 78. Geburtstag feierte, in seinem Leben viele gehört, aufgezeichnet, abgespeichert hat - im Gedächtnis und für den Geschichts- und Heimatverein auf Papier und digital. Als sein Vater aus dem Krieg und der Gefangenschaft, abgemagert auf 38 Kilo, nach Hause kam, erhielt er vom Stadtpfarrer die letzte Ölung, erzählt Klingenstein. Aber er wurde aufgepäppelt, überlebte, erhielt einen Posten im Versorgungsamt und kümmerte sich um Hinterbliebenenansprüche. Berufsbedingt zog Vater Klingenstein mit der Familie nach Rottweil, da war der kleine Bernhard in der zweiten Klasse. Doch mit seinem jüngeren Bruder war er regelmäßig in Trochtelfingen. Seine Aufgabe: abends die Milch in die Molke bringen. Er fühlte sich bei Onkel und Tante wohl, wollte lieber im Städtle bleiben. Und so kam's. Und 1957 zog die ganze Familie zurück nach Trochtelfingen.

Lieblingsfach: Geschichte

Bernhard Klingenstein besuchte das Progymnasium, dann machte er in Hechingen das Abitur. Lieblingsfach in der Schule - wen wundert's: Geschichte. Und was den »kleinen Bernhard« auch immer interessierte: Die Geschichten und Anekdoten, die sich Tanten, ältere Frauen beim Kochen erzählten und die er aufschnappte: »Vieles davon ist hängen geblieben«, bis heute. Klingenstein schlug die Offizierslaufbahn ein. Bis 2003 tat er seinen Dienst, bis nach München verschlug es ihn, die Bande in die Heimat rissen aber nie ab. So jemanden könnte man brauchen, dachten sich damals wohl die Macher des Geschichtsverein, »du könntest doch eintreten«, sagten sie ihm, Klingenstein tat's, wurde Pressewart. Im Übrigen nicht sein einziger »Club«, auch beim Schützen-, Kapellenbau-, Kultur- und Stadtfestverein sowie beim militärhistorischen Verein auf der Haid ist er dabei. Ein Jahr später, als Fritz Eisele aufhörte, wurde Klingenstein Vorsitzender der heimatgeschichtlich Interessierten - damals vor 20 Jahren, war er der Jüngste im Bunde.

Ausstellungen hatte der Verein schon immer gemacht. 2004 gab's die achte, aber die erste in den neuen Räumen des Vereins im ersten Stock des früheren Schwesternhauses, in dem vor dem Geschichtsverein die Polizei ihre Amtsstube hatte. Alles selbst umgebaut, alles selbst finanziert. 2008/2009 machte der Verein mit einer großen Ausstellung von sich reden, die Schicksale und Lebensläufe von Aus- und Einwandererfamilien beleuchtete. »Das hat viel Wissen gebracht«, sagt Bernhard Klingenstein. Vieles wurde im Vorbeigehen erzählt, was auch noch für spätere Expositionen und archivarische Arbeit Relevanz hatte. »Das war, wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft.« Es hat Kreise gezogen, jemand kannte jemanden, der jemanden kannte und so weiter. Viele haben zugeliefert, was dann in Ausstellungen verarbeitet wurde oder das Archiv, das Gedächtnis der Stadt komplettierte. Die jahrelange Suche und »Forscherei« war nicht Fron für Bernhard Klingenstein, sondern echte Herzensangelegenheit. »Es geht nicht darum, nur schnell eine Ausstellung auf die Beine zu stellen, sondern Nachweise zu führen, alles für spätere Generationen aufzuarbeiten und zu bewahren.«

Und wenn er Menschen durch sein Städtle begleitet - als Stadtführer oder als sein Alter Ego Graf Eberhard I. - ist es ihm immer wieder ein wertvoller Moment, wenn die Gruppe vor einem Haus steht und ein Foto gezeigt bekommt, wie das Gebäude oder ein Straßenzug vor 100 oder mehr Jahren aussah und kaum jemand glauben kann, was für »Buden« da manchmal in Trochtelfingen standen. Dann weiß er, dass seine Arbeit Früchte trägt und sinnstiftend war. »Es gibt andere lebende Lexika in Trochtelfingen«, sagt Klingenstein, der sich ungern in den Mittelpunkt spielt. Sicher, zur Arbeit im Verein braucht es viele Menschen, aber eben auch einen Vorsitzenden, der zu organisieren weiß, der Ideen hat, der kontinuierlich bei der Stange bleibt. Und ein lebendes Lexikon ist Bernhard Klingenstein auch - einmal nach einem Haus oder einer Familie gefragt, gibt er aus dem Effeff Auskunft.

Der Traum vom Schloss

Sein großer Wunsch indes hat sich noch nicht erfüllt: Der nach barrierefrei zugänglichen Museumsräumen, nach einem richtigen Archiv, in dem nicht nur Dokumente der Vereine, sondern auch der Stadt unter richtigen Bedingungen verwahrt werden. »Ich kenne die Sorgen der Stadt«, sagt er und spielt auf die finanzielle Situation an. Aber der Traum vom Schloss - den träumt er weiter. 2020 hatte der Verein den Antrag gestellt, dort Museum, Stadtarchiv, Standesamt unterzubringen und einen Raum für (Kleinkunst-)Veranstaltungen. Und auch die Sitzungen des Stadtrates könnten dort in weniger beengten Verhältnissen als im Rathaus stattfinden. Und dann wäre dort auch Platz fürs Archiv. »Das Schloss muss ein repräsentatives Gebäude für die Stadt sein und bleiben.« Ein Ort, »wo was geht«. Oder man könne über die ehemalige Stadtmühle nachdenken. Ideengeber ist Klingenstein auch - mal sehen, was sich in den kommenden Jahren in Trochtelfingen tut.

Bernhard Klingenstein wird all das verfolgen. Und jetzt ist er nicht nur Mitglied, sondern auch erstes Ehrenmitglied des Geschichts- und Heimatvereins. »Ich habe noch einiges abzuarbeiten und arbeite weiter zu. So lange das Gedächtnis hält«, sagt er. Herrschaftswissen - »damit kann man nichts anfangen«. Deshalb hat er bei seiner letzten Jahreshauptversammlung ein besonderes Geschenk von Bürgermeisterin Katja Fischer erhalten: ein Diktaphon. Sie bat ihn, bei Spaziergängen durch die mittelalterlich geprägte Kleinstadt sein Wissen sprachlich zu festzuhalten; zu groß sei die Sorge, dieses Wissen nicht dokumentiert zu haben. Nur in manch fremder Wohn- oder Küchenstube wird Bernhard Klingenstein nun nicht mehr so häufig sitzen. (GEA)