TROCHTELFINGEN. Um den 11. November gibt's zwar eine Hexentaufe im Städtle, ansonsten läuft die Städtlemer Fasnet aber nach anderen Regeln als anderswo. Häsabstauben - gibt's in Trochtelfingen nicht. Veranstaltungen vor Weiberfastnacht auch nicht. Erst am Schmotzigen Doschdig beginnt die »kurze« Fünfte Jahreszeit, die mit der Hexenverbrennung am Fasnetsdienstag auch schon wieder zu Ende ist. Was in den sechs Tagen aber passiert, ist für den, der's mag, der närrische Frohsinns-Himmel auf Erden.
Was die Menschen an Rhein und Mosel können, können die Trochtelfinger schon lang. 1886 zog der erste bekannte Rosenmontagszug durchs Städtle. Seit 1906 ist überliefert, dass während der Fasnet ein Prinzenpaar Regierungsgeschäfte und Regentschaft in Trochtelfingen übernimmt. Das ist der Tatsache geschuldet, dass einst - 1882 und 1886 gibt es Belege dafür - hohenzollerische Trochtelfinger Schulmeister ans Lehrerseminar in Boppard am Rhein gingen. Und so zog Prinz Karneval an die Seckach.
Somit ist unter anderem auch erklärbar, warum der Narrenverein Schrei Au keinem der Verbände, in dem die schwäbisch-alemannischen Narrenzünfte zusammengeschlossen sind, Mitglied ist. Denn dann wären Elfer- beziehungsweise Narrenrat, Prinzenpaar & Co. passé gewesen. Und eben das wollten die Trochtelfinger vermeiden, ist es doch das Alleinstellungsmerkmal im weiten Umkreis. »Unsere Tradition wollten wir nicht aufgeben.«
Mindestens 460 Jahre ist die Fasnet in Trochtelfingen verbrieft, urkundlich zum ersten Mal 1565 erwähnt. In einer Bestimmung der Fürstenbergischen Herrschaftsordnung hieß es, dass »singen, johlen und herumschwärmen auf den Gassen an den Abenden der Sonn- und Feiertage« verboten sei und »Unfug am Aschermittwoch, zum Beispiel Begraben der Fastnacht ... arbiträre Strafen nach sich« ziehen würde. Wie genau gefeiert wurde, bleibt ein Geheimnis der Geschichte. Seit 1886 dann aber ziehen die Narren durch die Straßen, der heutige Rosenmontagsumzug war als »Großer Masken-Zuge« geboren.
Heute wird straffrei gefeiert, auch die Bürgermeister-Folter zieht keine Züchtigung nach sich. Und welche Narretei sich für den Schultes ausgedacht wurde, erfahre selbst er erst nach 15 Uhr am Schmotzigen Doschdig, sagt Narrenmeister Harald Weihbrecht-Betz. Den Mittelalter-Schuhen ist sie längst entwachsen. Ausgefallen ist sie selten, natürlich in Kriegszeiten und während des Golfkriegs 1991, Corona war auch so ein Fall. Aber bald nach dem Zweiten Weltkrieg ging's wieder rund im Städtle, 1946 als unorganisierte Hausfasnet, 1950 dann schon wieder mit einem Prinzenpaar.
»Elferrat wurde man auf Zuruf«, sagt Martin Scherer. Sein Vater war einer der ersten Elferräte, die seit 1954 die Fasnet organisierten, der Sohn tat's dem Papa nach. Voraussetzung: »Du musstest einen guten Leumund haben.« Denn es gibt nichts Ernsteres als Fasnet, Karneval, Fastnacht. »Die Sache ist immer größer geworden«, erinnert sich Herbert Frank an die Zeit, als er 1971 in den Kreis der Elferräte berufen wurde. »Früher war die Fasnet eine reine Haus- und Dorffasnet«, sagt Karl-Heinz Storz. Weder fuhren die Trochtelfinger zu Veranstaltungen in anderen Orten, noch kamen auswärtige Zünfte ins Städtle.
Bis 1981 organisierte der Elferrat privat die Fasnet im Städtle. Inklusive Rosenmontagszug. Eine Mammutaufgabe. »Wir hätten privat gehaftet, wenn was passiert wäre«, sagt Frank. Ist es zum Glück nicht. Aber die Trochtelfinger Narren wollten Struktur in das Ganze bringen. Klaus-Peter Kleiner hat die erste Satzung entwickelt, eine Gründungsversammlung wurde im Rössle einberufen und so ward er geboren, der Narrenverein Schrei Au. Ja, dieser Name. Was hat's damit auf sich? Seit 1977 ist Schrei Au der offizielle Narrenruf. Und die Schreier sind quasi die Galionsfiguren der Städtlemer Fasnet. Für die Entstehung gibt es mehrere Legenden, »wir können mit allen leben«, sagt Steffen Guhl, stellvertretender Narrenmeister. Auf jeden Fall geht's darum, dass die Trochtelfinger eine große Gosch hatten/haben, entweder um sich lautstark bemerkbar zu machen, Rechte einzufordern oder als Händler am Marktflecken, um die produzierten Waren feilzubieten. Oder einfach, weil sie vorlaut waren.
Die Fasnet explodierte, die Trochtelfinger Lokalitäten barsten bei den Bürgerabenden. Und so wanderte die Trochtelfinger Hallenfasnet aus, in die Festhalle in Mägerkingen. Um alle über die alte Landesgrenze zu bekommen, chauffierten Busse die Narren dorthin. Erst 1987 kamen die Schrei-Au-Aktivisten zurück und weihten - nun gut, nicht als ganz erste - die neue Werdenberghalle ein mit dem Bürgerabend als erst zweite Veranstaltung in dem neuen Mehrzweckbau.

Aus 47 Mitgliedern im Gründungsjahr waren nach zwei bis drei Jahren schon 400 bis 500 geworden, nach 33 Jahren über 700, im Jahr 44 nach der Eintragung ins Vereinsregister sind es aktuell 814. Gute, sogar strenge Organisation und sparsames Wirtschaften sind wichtig. Nur so konnte sich der Narrenverein leisten, sein Vereinsheim im denkmalgeschützten Pulverturm in Erbpacht zu übernehmen und zu sanieren. Und nur so können Laufbendel zum günstigen Preis verkauft werden. Arbeitsteilung ist das Geheimrezept - es gibt Verantwortliche für die Straßen- und die Hallenfasnet, denn so sorgen die Trochtelfinger Narrenmeister dafür, dass den Mitgliedern noch genügend Zeit und Raum bleibt, selbst an der Fasnet auf d'Gass zu gehen und kräftig mitzufeiern. »Klar hat jeder seine Aufgaben«, sagt Steffen Guhl, aber alles ist auf mehrere Schultern verteilt, sodass niemand überfordert wird und die Lust an der kollektiven Narretei verliert.

»Es gibt kein Gremium, das mit mehr Spaß zusammenarbeitet, als der Narrenrat«, sagt Martin Scherer. Ein Narrenrat, der in seinen Mänteln, Hüten, schmutzanfälligen weißen Hosen Respekt einflößt. Ein Narrenrat, der sich als »Dienstleister« für die Mitglieder versteht, sagt Guhl, damit die die Fasnet genießen und auch die uniformierten Herren ihr Gewand am Schmotzigen abends ablegen können, um bei der Hausfasnet zu feiern. Trotzdem ist zwischen Weiberfastnacht und Fastnachtsdienstag kaum an Erholung und Schlaf zu denken, sagt Narrenmeister Harald Weihbrecht-Betz. Schon lange vorher entwickeln die Gruppen den Stoff für ihre Auftritte und Choreografien und proben, die Wagenbauer sind am Werk. Sie nehmen politische, regionale und lokale Themen aufs Korn. Zum ersten Mal auf die Straße darf so ein Wagen aber tatsächlich erst beim Rosenmontagsumzug in Trochtelfingen. Viel Arbeit für eine kurze Lebensdauer der fahrbaren Persiflagen.
Zwei Wochen zuvor geht's schon mit dem Showtanzwettbewerb los. Dann kommen die Haussammlung, Schülerbefreiung, der Rathaussturm, das Narrenbaumstellen, ein Besuch im Seniorenheim, Bürgerabende, Rosenmontagsumzug - das ist ein »Großkampftag« für alle, so Weihbrecht-Betz -. Kinderspeisung, -umzug und -ball, Narrenbaumversteigerung bis zum feurigen Finale, der Hexenverbrennung in der stimmungsvollen Atmosphäre des Schlossgartens. »Ein beeindruckendes, berührendes Erlebnis«, sagen die ehemaligen Narrenmeister Martin Scherer, Herbert Frank, Karl-Heinz Storz und Paul Kromer, ein »Tränendrüsenmoment«, bestätigt Steffen Guhl. Aber nach der Fasnet ist vor der Fasnet, und die Vorfreude auf die nächste Fünfte Jahreszeit beginnt. »Schrei Au!« (GEA)