ST. JOHANN/MÜNSINGEN. Bis hinein ins 18. Jahrhundert waren Wanderbühnen in ganz Deutschland etabliert. Damals waren die Menschen wenig mobil und ein Theaterbesuch war für die meisten unerschwinglich. Auch heute wird es zunehmend aufwendiger, in die Stadt, ins Stadttheater zu gehen. Dietlinde Ellsässer und Hans Förster greifen die Tradition regionaler und lokaler Kulturarbeit wieder auf und bringen professionelles Theater auf Land, in die Dörfern. Mit einem historischen Traktorgespann aus Schlüter 6-Zylinder und Materialwagen transportieren sie alles, was es für ein heutiges Theater braucht – und sind am nächsten Tag unterwegs zum nächsten Ort.
»Theater unterwegs« heißt das Projekt, das die Akteure so beschreiben: »Auftreten in Höfen, auf dem Dorfplatz, in der Mitte der dörflichen Welt. Themen zu Wort kommen lassen, die zum Nachdenken animieren, aber auch mit viel Humor, der Schwere, der Enge eine Leichtigkeit schenken. Dazwischen zarte Harfentöne und Raum zum Atmen. Geschichten erzählen vom Leben auf dem Land, vom Kollaps in der Stadt. Und der Frage nachgehen was bedeutet Heimat für dich, für mich?«
Mundart und Harfe
Mit Traktor und Zirkuswagen fahren Dietlinde Ellsässer und Hans Förster bei ihrer kleinen Tournee über die Reutlinger und Münsinger Alb und präsentieren das Programm »Jetzt guck do na« in 14 Orten an der Strecke. Gestartet wird am Wochenende in Würtingen und Münsingen. Aufgeführt wird ein etwa 90-minütiges Programm mit Lesung, Kabarett und Musik. Texte bekannter und berühmter schwäbischer Dichter und Schriftsteller (Hölderlin, Blau, Mörike, Uhland, Hauff) werden gepaart mit Mundart-Kabarett, vorgetragen in der unvergleichlichen Art Dietlinde Ellsässers.
Während ältere Menschen sich gerne erinnern – an ihre Schulzeit, ihre Jugend, ihre Lebenserfahrungen –, werden junge Menschen mithilfe humorvoller Leichtigkeit an Texte bedeutender Schriftsteller der Region herangeführt. Insbesondere durch die Einbeziehung tagesaktueller Themen oder spontaner Publikumsreaktionen wird aus Mundart gelebte Sprache. Nuancen und Dialekte einzelner Ortschaften werden erlebbar, das mobile Vorhaben unterstützt das noch durch den lokalen Bezug.
Die Harfe sowohl als Gegenpol als auch als Verbindungsglied zwischen den Episoden ist einerseits das älteste Saiteninstrument überhaupt und findet sich andererseits heute meist in klassischer Form in Orchestern (und somit in der Stadt). Jeder kennt das Instrument, aber wenige haben je eines in natura gesehen. Im Mittelalter war dies anders, die Harfe gehörte zum Standard-Instrumentarium der wandernden Spielleut. Mit der Harfe ist moderne und zeitgenössische Musik spielbar. Ein wenig Pop, etwas Rock und eine Prise Jazz auf der Harfe sind somit ein Türöffner für Geschichte und Tradition, ein Bindeglied zwischen Jung und Alt, zwischen Stadt und Land.
Jeden Tag ein neuer Ort, ganz in der Art der fahrenden Theaterleute des 17. und 18. Jahrhunderts. Gefällt das Programm – prima. Gefällt es nicht, wird man ausgelacht oder vertrieben. Adelshöfe, Klöster und Kirchen beschäftigten – wenn sie es sich leisten konnten – bezahlte und fest angestellte Musiker und Theaterleute. Für das »gemeine Volk« allerdings waren die wandernden Künstler relevanter, sei es als mobile Tageszeitung, als Unterhalter oder als Provokateur von Politik und Klerus. Auch auf der Alb waren Wanderbühnen bekannt, einige haben es durch ganz Europa geschafft, wie die fahrenden Bühnen aus Bisingen-Thanheim, namentlich die »Dehner Brüder« und die »Buckenmaier-Gruppe«.
Diese heimatliche Tradition wird ein wenig aus der historischen Versenkung geholt, indem das »Theater unterwegs« täglich wechselnde Schauplätze hat und mit historischem Material unterwegs ist. Der Traktor ist ein 50-jähriger Schlüter 950VS, als Wagen dient der ehemalige Orgelwagen eines Zirkus aus den 1960er- Jahren. Allein dieses Gespann wird viele Augen auf sich richten und selbst gestandenen Landwirten die Vergangenheit wieder nahebringen.
An der Tradition orientiert ist auch die Organisation: Es gibt keinen Ticketverkauf. Wie bei früheren Wanderbühnen werden ausschließlich »Spenden« eingesammelt. Gefällt das Programm, hat es sich für die Künstler gelohnt, gefällt es nicht, haben sie ein Problem ... Die Vorstellung findet draußen und nur bei schönem Wetter statt. Die Zuschauer bringen einen Stuhl und bei Bedarf auch ein Vesper mit.
Das kulturelle Leben im ländlichen Raum unterscheidet sich immer noch stark vom kulturellen Leben in städtisch geprägtem Umfeld. In der Stadt (Tübingen, Reutlingen, Rottenburg) geht man ins Theater, ins Kino oder in Konzerte und trifft dort Freunde und Bekannte. Wer auf dem Land wohnt und zu einer Kulturveranstaltung in die Stadt geht, wird dort selten Bekannte treffen. Das »Theater unterwegs« will deshalb Kultur in das Umfeld der ländlichen Gemeinden bringen und so einen Beitrag dazu leisten, gleichwertige Angebote im urbanen und im ländlichen Raum zu schaffen. (fm/GEA)
THEATER UNTERWEGS
Die Landpomeranze und der Harfenmann
Auftreten werden Dietlinde Ellsässer und Hans Förster mit ihrem »Theater unterwegs« an folgenden Orten und Terminen: Samstag, 29. Mai, in Würtingen, am Sonntag, 30. Mai, in Münsingen, am Dienstag, 1. Juni, in Gomadingen, am Mittwoch, 2. Juni, in Oberstetten, am Freitag, 4. Juni, in Engstingen, am Samstag, 5. Juni, in Trochtelfingen, am Sonntag, 6. Juni, in Erpfingen und am Dienstag, 8. Juni, in Melchingen. Nach Auftritten im Raum Tübingen und Rottenburg kommt das »Theater unterwegs« dann erneut auf die Alb. Zu erleben ist es am Samstag, 26. Juni, in Pfronstetten, am Dienstag, 29. Juni, in Ödenwaldstetten, am Donnerstag, 1. Juli, in Holzelfingen und am Samstag, 3. Juli, erneut in Münsingen. Als Beginn des Theaterprogramms wird immer 19 Uhr angegeben, doch können sich die Zeiten noch ändern. Sie werden ebenso wie die genauen Spielorte im Internet bekannt gegeben. (em)
dietlinde-ellsaesser.de