ENGSTINGEN. Sandra Ehni kommt zurück vom Hausbesuch, sie gehört zum Team der Alltagsbetreuung der Sozialstation St. Martin in Engstingen. Die Alltagsbetreuung ist einer der Bausteine, den die Sozialstation neben Gruppenangeboten, Pflege zu Hause und - seit diesem Jahr - »Essen auf Rädern« im Programm hat. So unterschiedlich diese Bausteine sind: Sie ermöglichen es Senioren, aber auch jüngeren Menschen, die eine Krankheit haben oder nach einem Unfall in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden zu leben.
Die Deutschen leben länger, werden aber auch kränker, irgendwann kommt man alleine nicht mehr zurecht. Pflegeplätze sind rar, weiß Teamleiterin Manuela Wiese. Am Geld für den Bau und den Betrieb von Heimen allein klemmt es schon lang nicht mehr, wo es keine Pflegekräfte gibt, hilft die schönste Seniorenresidenz nicht. Um so wichtiger ist es, das Leben in den eigenen vier Wänden als Alternative zu unterstützen und auszubauen.
Selbstwertgefühl vermitteln
Die Alltagsbetreuung hilft dabei. Sandra Ehni kommt vom Frühstück mit einer älteren Dame, wie jeden Montag. Dafür nimmt sie sich Zeit. Sie hilft beim Anziehen, richtet das Bett, kocht Kaffee und unterhält sich dann mit ihrem Schützling - so hart getaktet wie die Einsätze der Kollegen von der Pflege ist die Alltagsbetreuung nicht. Das sollte sie auch nicht sein, meint Ehni. Es geht ja vor allem darum, etwas gegen die drohende Einsamkeit im Alter zu tun, die Menschen am Alltagsleben teilhaben zu lassen. Berlin-Reinickendorf hat jetzt eine Einsamkeitsbeauftragte, die erste in der Bundesrepublik, das Problem ist also bereits in der Politik angekommen.
»Der Mensch ist ein soziales Wesen, und das nicht nur in der Familie«, sagt Wieser. Wenn aber Dinge, die einst einfach erschienen, zur Hürde werden, droht die Welt da draußen zu verschwinden. Und im Laufe der Zeit wird alles schwieriger. »Wir haben Kunden, die schon länger allein leben«, berichtet Wieser, »es ist nicht einfach, sie wieder zu aktivieren.« Selbst Besuche können dann schon zu viel sein, etwas, dem man sich nicht mehr gewachsen fühlt. Durch die Besuche von Ehni und ihren Kollegen kann sich das ändern. Am Anfang stehen die regelmäßigen Kontakte, dann kommt das Selbstwertgefühl zurück. Wer früher gern gebacken hat, bekommt jetzt Unterstützung. »Es macht glücklich, wenn zum Geburtstag wieder etwas angeboten werden kann«, erzählt Wieser, wenn jemand sagen kann: »Ihr braucht nichts mitzubringen.« Und daraus entstehe die Energie, wieder etwas anders zu machen, sich das Leben zurückzuholen: »Das konnte ich früher ja auch.«
Medienberatung wird wichtiger
Backen und Basteln, gemeinsame Shoppingtouren oder der Weg zum Frisör - das gehört zu den Aufgaben der Alltagsbetreuung. Aber auch hier kündigt sich der Wandel an. Zum einen ist da das jüngere Klientel - erkrankt, nicht gereift - aber auch die Senioren sind nicht mehr von gestern. »Google mal mit deinem Teufelsapparat«, flachst eine von Ehnis Damen, wenn sie ins World Wide Web vordringen will. Tablets und Smartphones gehören immer mehr zum Alltag, und nicht nur das Notfalltelefon, die Betreuerinnen werden zu Medienberatern. Whatsapp-Gruppen gibt es mittlerweile auch für Engstinger Graubärte, die Alltagsbetreuung kann, sofern überhaupt nötig, beim Einstieg helfen: »Das Interesse ist groß, die wollen nicht abgehängt werden«, hat Wieser beobachtet.
»Die geburtenstarken Jahrgänge gehen gerade in den Ruhestand, in zwanzig Jahren wird sich die Pflege völlig geändert haben«, prophezeit Wieser. Ehni und Wieser bewegen sich in einer Übergangsphase. Die Digitalisierung kommt, vergangene Zeiten sind aber noch präsent. Wichtiges Werkzeug ist der Biographiefragebogen. Der gehört zum ersten Beschnuppern, zum Kennenlernen. Es darf Wochen dauern, bis er ausgefüllt ist, sagt Wieser, nicht wie der Fragebogen beim Arzt im Wartezimmer. Denn Traumata sind auch in Deutschland noch da, Erinnerungen an Kriegsgräuel, Bombennächte oder Vergewaltigungen. So etwas müsse man langsam freilegen, vorsichtig sehen, in welche Richtung das gehen kann.
Entlastung der Familien
Auch wo das Großfamilienleben noch in Ordnung ist, hilft die Alltagsbetreuung. »Dass sich immer noch vor allem Frauen aus dem Beruf zurückziehen oder in Teilzeit gehen, um Angehörige zu pflegen, ist nicht in Ordnung«, findet Wieser. Recht hat sie, bei der Kinderbetreuung hat die Gesellschaft das schon erkannt. Beruf, eigene Kinder, Hobbys und gesellschaftliches Engagement: Die Zeit für Mutter oder Vater muss sich jeder abknapsen. »Manchen wird eine innere Last abgenommen, das schlechte Gewissen ist weg«, hat Ehni beobachtet, wenn die Oma einen Helfer und Gesprächspartner hat. Schön, dass St. Martin etwas Luft verschafft, bekommen die Betreuerinnen sogar im Supermarkt zu hören.
Kassen und Pflegeversicherung übernehmen die Kosten für das »Luft verschaffen« ganz oder teilweise. Pflegebedürftige aller Pflegegrade von 1 bis 5 haben Anspruch auf 125 Euro, der Entlastungsbeitrag soll Angebote finanzieren, die pflegende Angehörige entlasten. Die Sozialstation St. Martin bietet Pflegeberatung an, sich zu informieren lohnt sich: »Es gibt viele Angebote«, sagt Wieser, »aber die Betroffenen wissen zu wenig darüber.« (GEA)