SONNENBÜHL. »Zu einem schweren Verkehrsunfall ist es am Donnerstagabend, um kurz nach 22 Uhr auf der B312 gekommen.« So beginnt eine Pressemitteilung, die am 23. Februar 2024 vom Polizeipräsidium Reutlingen herausgegeben wurde. Geschildert wird darin der Unfall eines 18-Jährigen, der mit seinem BMW auf der B312 zwischen Bernloch und Engstingen ein anderes Auto überholte, von der Straße abkam und gegen einen Baum prallte. Mit solcher Wucht, dass der BMW in zwei Teile gerissen und der junge Fahrer aus dem Wagen geschleudert wurde.
»Er erlitt schwerste Verletzungen und wurde nach der Erstversorgung vor Ort durch den Rettungsdienst in eine Klinik gebracht«, schreibt die Polizei weiter. Vier Feuerwehrfahrzeuge und 27 Einsatzkräfte, fünf Fahrzeuge vom Rettungsdienst und neun Einsatzkräfte: Es war ein Großeinsatz, die Straße war mehrere Stunden lang voll gesperrt. »Zu nennenswerten Verkehrsbehinderungen kam es nicht. Der BMW, an dem ein Schaden von ca. 5.000 Euro entstand, musste durch einen Abschleppdienst versorgt werden.« Mit diesem sachlich-nüchternen Satz endet die Nachricht, die in verschiedenen Zeitungen abgedruckt wurde.
»Es gibt kein tieferes Loch, in das man innerhalb von Sekunden fallen kann. Der Zustand ist wie Fliegen ohne Ziel, Fliegen in das Nichts.« So beginnt ein Text mit dem Titel »Und plötzlich fehlt Dein Kind«, der in keiner Zeitung zu finden war. Geschrieben hat ihn Andrea Hermann aus Sonnenbühl. Der 18-Jährige war ihr Sohn. Sein Name war Sven, und wenn dieser Unfall nicht passiert wäre, dann könnte er heute, am 25. März, seinen 20. Geburtstag feiern. Zwei Tage nach seinem Unfall, kurz vor seinem 19. Geburtstag, ist Sven gestorben.
Was für ein Mensch war er? Und wie ging es weiter, nachdem er ins Krankenhaus eingeliefert wurde? Dieser Teil der Geschichte bleibt in Polizeimeldungen offen. Es sei denn, jemand durchbricht diese Anonymität. Und erzählt von der Tragödie, die das Leben einer Familie von heute auf morgen zerstört hat. Andrea Herrmann tut das – in der Hoffnung, dass Sven nicht umsonst gestorben ist. »Sein Tod soll zeigen, wie zerbrechlich Leben ist«, sagt sie. Und damit vielleicht sogar anderen das Leben retten. Deshalb will sie erzählen. Von Sven und von sich selbst. Von seinem Unfall und dem, was der Verlust ihres eigenen Kindes mit ihr und ihrer Familie gemacht hat.
»Auf dem Weg geht das Kopfkino«
Sven kommt am 22. Februar 2024 nicht wie sonst von der Spätschicht nach Hause. "Das Wetter war schlecht und wir Eltern wollten uns auf den Weg machen. Dachten, der Bub liegt vielleicht im Graben", blickt Andrea Herrmann zurück. Zig Mal versucht sie in jener Nacht, Sven anzurufen. Beim letzten Mal geht jemand ran. Es ist nicht Sven, sondern der Polizist, der das Handy, das irgendwo im Gras lag, gefunden hat. "Wir sollen zu unserem Sohn in die Klinik." Das ist das Einzige, was zu diesem Zeitpunkt klar ist. »Auf dem Weg geht das Kopfkino«, schildert die Mutter die Situation. "Wir hoffen, es ist nicht so schlimm." Auf der Fahrt durch die Nacht. Und auf dem Klinik-Flur, wo die Eltern warten. "Keiner wollte uns ganz genau sagen, was los ist. Dann ein Arzt, wir sollen auf Intensiv."
Sven hat innere Blutungen, in einer Notoperation hat man ihm bereits die Milz entnommen. »Die Ärzte haben uns gesagt, dass er Wirbelbrüche hat und ab dem Kopf querschnittsgelähmt sein wird.« Sein Zustand wird nicht stabiler, sondern immer kritischer. Nur wenige Stunden, nachdem Sven nicht heim gekommen und der fremde Polizist ans Telefon gegangen ist, erfahren seine Eltern: Ihr Kind wird nicht mehr aufwachen. Sven ist hirntot.
Einer der beiden Ärzte, mit denen sie reden, holt tief Luft. »Er hat nach Organspende gefragt«, sagt Andrea Herrmann. Und obwohl sie selbst einen Organspenderausweis hat und wie Sven bei der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) registriert ist, sagt sie Nein. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Überforderung. Weil das alles viel zu viel, viel zu schnell ist, um eine solche Entscheidung zu treffen. Und weil da, allen medizinischen Fakten zum Trotz, noch ein Funke Hoffnung ist: »Du hältst dich am letzten Strohhalm fest.« Solange, bis die Ärzte freundlich, aber bestimmt darum bitten, dass ein Termin vereinbart wird. Ein Termin, an dem die Geräte, die Svens Körper noch am Leben halten, abgestellt werden. »Sein Herz hat noch lange weiter geschlagen.« Den Moment, in dem ihr Sohn gegangen ist, haben die Eltern nicht realisiert.
»Kinderbilder kann ich mir bis heute nicht anschauen«
Kann man sich ein Bild vom Unvorstellbaren machen? An einem Regentag, einem Tag wie dem, als Sven verunglückte, fährt Andrea Herrmann mit ihrem Auto zur Unfallstelle. »Ich bin die Strecke ein paar Mal gefahren, ich wollte spüren, was er gespürt hat, ob er Angst hatte oder ob er überrascht war.« Ein Bekannter, erzählt sie, habe sie im richtigen Augenblick angerufen. »Wer weiß, was sonst passiert wäre, vielleicht wäre ich so lange und immer schneller gefahren, bis ich selbst auch von der Straße geflogen wäre.«
Svens Zimmer ist noch so, wie er es verlassen hat, »die Jeans, die er zuletzt getragen hat, und sein Fasnetskostüm habe ich nicht gewaschen«. Es riecht nach Holz, erzählt Andrea Herrmann. Es sind die Werkstücke, die Sven in seiner Ausbildung zum Zimmermann angefertigt hat. »Wenn ich reingehe, halte ich die Luft an, weil ich es sonst nicht aushalte.« Düfte sind Erinnerungen. An einen Jugendlichen, einen jungen Mann, den seine Mutter als gutmütigen und hilfsbereiten Menschen schildert. Physisch »groß und stabil«, mit einem Faible für extravagante Haarschnitte, um ein bisschen aufzufallen. Er hatte einen guten Job und Pläne, den Meister zu machen. Seinen Beruf hat er geliebt, das Zeichen seiner Zunft hat er sich unter die Haut stechen lassen. Andrea Herrmann hat die Tätowierung im Krankenhaus fotografiert und eine Haarsträhne abgeschnitten.
»Kinderbilder kann ich mir bis heute nicht anschauen«, erzählt sie. Mit den Erinnerungen kommen die Selbstvorwürfe. »Man fragt sich, ob man als Eltern versagt hat.« Dass Sven ein »Kamikaze« war, habe sie gewusst, »wir haben uns oft Sorgen gemacht, dass ihm mit dem Motorrad etwas passiert«. Ermahnt und vor Selbstüberschätzung gewarnt haben die 52-Jährige und ihr Mann ihren Jungen deshalb immer wieder. Auch, weil sie das Gefühl hatten (?), dass er sich der Gefahr manchmal nicht bewusst war. Sven hat gerne Videospiele gezockt, »da verschwimmen die Grenzen zur Realität vielleicht manchmal«, sagt die Mutter. »Im echten Leben steht man eben nicht mehr so einfach auf wie im Spiel.«
»Es zerreißt einen, wenn auf der Tüte mit den persönlichen Sachen nur eine Fallnummer steht«
Ausschalten, Pause drücken, ins nächste Level springen oder einfach ein anderes Spiel spielen. Auch Andrea Herrmann, ihr Mann und Svens Bruder hätten sich manchmal gewünscht, das zu können. Hinter ihnen liegt ein Jahr »voller Schmerz, voller ‚hätte‘, voller Warums und voller Leere«. Die taffe Frau, die als Schornsteinfegermeisterin arbeitet, hat eine Auszeit genommen, sich krankschreiben lassen und später über eine Wiedereingliederung zumindest ein Stück weit wieder in die Normalität zurückgefunden. Sie hat Antworten und Hilfe gesucht, bei Coachings genauso wie bei einem Schamanen. Und dabei Selbstreflexion und Achtsamkeit, viel über sich selbst und viel über andere gelernt. »Manche«, erzählt sie, »wissen bis heute nicht, wie sie mir begegnen sollen.«
Mit ihrer, mit Svens Geschichte will sie mehrere Botschaften verbinden. Eine geht an die Adresse des Gesetzgebers: Einen Stufenführerschein für junge Fahrer, wie er beim Motorrad schon lange Praxis ist, wünscht sie sich auch fürs Auto. »50 PS, 75 PS, 100 PS, dann frei.« So, hofft sie, würden weniger junge Menschen ihre Unvernunft mit dem Leben bezahlen.
Die zweite Botschaft ist an die Ärzte gerichtet: »Eltern haben nicht die notwendige Routine, nicht das dicke Fell, so schnell über Organspende zu entscheiden.« Die dritte geht an die Polizei. Als Andrea Herrmann die persönlichen Sachen ihres Sohnes abholen durfte, klebte auf der Tüte nur eine Fallnummer. »Das zerreißt einen«, sagt sie. »Wäre es etwas persönlicher, wäre es zumindest ein bisschen weniger schwer.« Die vierte und letzte Nachricht ist für die Eltern, die ihr Kind verloren haben, denen sie sagen möchte: »Hey, ihr seid nicht allein, euer Kind ist da, nur in einer anderen Dimension und Energie. Ihr seid nicht verantwortlich, euer Kind hat selbst entschieden, dies oder jenes zu tun. Seid dankbar für die gemeinsame Zeit.«