GAMMERTINGEN-MARIABERG. Pasta mit Fleischküchle und Salat oder doch lieber eine Gemüsesuppe mit Germknödel zum Nachtisch? Karl-Ludwig Hartter zeigt mit bestimmter Geste und Kopfnicken auf das Bild der Nudeln, das ihm Franziska Weckerle vorgelegt hat. So wählt der 65-Jährige in der Fördergruppe im Haus Faigle sein Menü für jeden Wochentag selbst aus.
Karl-Ludwig Hartter lebt seit Gründung des zum Mariaberg e. V. gehörenden Angebots 2018 dort in der Sigmaringer Pfauenstraße und besucht seitdem die Fördergruppe als Tagesstruktur. »Wir gehen an den Kühlschrank und holen uns raus, was wir möchten – unsere Klienten sind dafür auf uns angewiesen. Entscheidungen selbst treffen zu können, ist wichtig fürs Wohlbefinden und die Selbstwirksamkeit«, erklärt Nicole Binder, Fachbereichsleitung Fördergruppen der Mariaberger Werkstätten. »Viele mussten erst lernen, Entscheidungen selbst zu treffen – und manche werden es auch nie können.«
Auch Menschen mit Behinderung erden älter
Die Arbeit der Fördergruppen ist vielfältig und individuell, weil ihre Klientel es auch ist. Die Zielgruppe dieses 1982 aus der Ergotherapie entstandenen Angebots gehört zur »schwächsten Klientel« Mariabergs: Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, in der Werkstatt zu arbeiten. Der Besuch der Fördergruppe bietet diesem Personenkreis einen Wochenrhythmus und einen Wechsel zwischen den Lebenswelten Wohnen und Beschäftigung, der dem Selbstverständnis der gesellschaftlichen Normalität entspricht.
Individuell zugeschnittene Tages- und Wochenpläne geben den Klienten Orientierung: So wird im Haus Faigle zum Beispiel jeden Morgen gesungen und jeden Freitag Kuchen gebacken. Zusätzlich zu den sieben Fördergruppen in Mariaberg und im Sigmaringer Haus Faigle gibt es Teams in Balingen, Biberach und Pfullendorf. Die Mitarbeitenden kommen aus der Heilerziehungspflege, Altenpflege, Krankenpflege, Heilpädagogik oder haben eine Ausbildung als Erzieher gemacht. Auch Nicht-Fachkräfte und Alltags- und Pflegehelfer spielen eine wichtige Rolle in den interdisziplinären Teams.
»Der demografische Wandel, die bessere medizinische Versorgung, schlägt sich auch stark auf den von uns betreuten Personenkreis nieder. Das darf man nie vergessen: Das sind die ersten Menschen mit Behinderung, die alt werden dürfen, nach dem Verbrechen der Euthanasie im Nationalsozialismus«, so Nicole Binder. Damit einher gehen mehr Pflegeaufgaben, auch im Bereich der Fördergruppen: Dort gibt es sowohl Klientinnen, die durch Sonden ernährt oder als Liegende umgelagert werden müssen, als auch Menschen, die vor allem der pädagogischen Betreuung bedürfen. Die feste Tagesstruktur trägt dabei auch zur emotionalen Stabilisierung bei.
Raum für Persönlichkeit
Karl-Ludwig Hartter ist ein Genießer: von gutem Essen und Musik ist er oft gerührt. Er bastelt gerne und ist als Einziger seiner Gruppe motorisch in der Lage, Dekoration aus Papier auszuschneiden. Gerne sieht er sich auf Fotos, weshalb ihm die Mitarbeiterinnen eine eigene Bilderwand eingerichtet haben: beim Einsäen am Hochbeet, beim Eisessen, verkleidet als Schmetterling … Karl-Ludwig Hartter hat Sinn für Humor, spielt in seinem Rollstuhl sitzend gerne mal »tot« oder stellt sich schlafend. Mit einem »April, April!« löst er den Scherz auf und lacht gerne mit seiner Betreuerin Olivia März. »Was er selbst kann, lasse ich ihn auch selbst machen«, erklärt sie: auch wenn die Fahrt durch den Flur oder das Einräumen seines Bechers in die Spülmaschine eben länger dauern.
»Karl-Ludwig profitiert davon, wenn er selbst mit der Umwelt interagieren kann«, so Olivia März. Unerwartete Eindrücke, wie vorbeifahrende Autos, stressen den 65-Jährigen: »Aber man kann ihn zurückholen mit Sicherheit und Vertrauen. Dann bespreche ich mit ihm, was eben passiert ist, und das beruhigt ihn.« Bei Karl-Ludwig Hartter geht es um den Erhalt seiner Fähigkeiten und größtmöglichen Selbstständigkeit.
Sich selbst wahrnehmen
Rund 30 Kilometer entfernt liegt Massimo Burgarello in der Mariaberger Mehrzweckhalle mit überkreuzten Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Air-Tramp. Gemächlich plustert sich das gigantische Luftkissen auf. Der 26-Jährige und die anderen vier jungen Klienten des Fördergruppen-Teams 3 können spüren, wie die Luft unter ihnen in das gelb-rote Riesen-Luftkissen strömt und ihre Körper hochschweben.
Teamleiterin Edeltraud Specht-Tsouvaltzis hüpft und krabbelt mit den jungen Menschen darauf herum, wirft ihnen Bälle zu und animiert sie zur Bewegung und Interaktion. »Das ist schon ein Highlight in der Woche«, bemerkt ihr Kollege Matthias Bader, der auf dem Boden bleibt und aufpasst, dass der Übermut niemanden über den Rand des Luftkissens treibt. Das Air-Tramp schult das Körpergefühl: hier können sich alle auspowern oder auch mal entspannen. Klientin Stefanie legt sich neben die gelernte Altenpflegerin, schaut sie prüfend an und stützt dann ihre Hände auf ihre Hüften. Edeltraut Specht-Tsouvaltzis tut es ihr gleich. Steffi hebt ein Bein – ihr Gegenüber spiegelt die Bewegung. Das Spiel geht noch eine Weile so weiter und ist Teil der Kommunikation. Die Fachkraft findet einen Zugang zur Klientin, der keiner Worte bedarf.
Viele brauchen persönliche Präsenz
Massimo Burgarello hat begeistert Ball gespielt, und eine Weile hat sich der junge Mann sogar auf dem Air-Tramp aufgestellt und sachte gewippt. Eine große Anstrengung in Anbetracht seiner Skoliose, einer Seitabweichung der Wirbelsäule. »Viele brauchen nur die persönliche Präsenz, um selbst tun zu können, was sie können«, meint Nicole Binder. Der Wochenplan in den Fördergruppen sei kein Wunschkonzert, sondern teils echte Arbeit für die Klienten. In einem Stehtrainer können Menschen mit Skoliose an ihrer Rumpfstabilisierung arbeiten und einer Wirbelsäulenverkrümmung vorbeugen. Tägliche Spaziergänge steigern neben der Fitness die Stimmung. Und je nach persönlicher Neigung werden Fähigkeiten gefördert und entwickelt, mit dem Ziel, die Personen zu mehr Teilhabe zu befähigen.
Massimo Burgarello hat zum Beispiel großes Interesse an digitalen Medien. Mit seinem neuen Tablet wollen die Mitarbeitenden ihn in der Unterstützten Kommunikation in Form von Symbolen schulen. Daraus lassen sich durch Antippen ganze Erzählungen bilden, und Menschen mit kognitiver Einschränkung wie der 26-Jährige können so mit ihrer Umwelt ins Gespräch kommen. Da er eine Vorliebe für Traktoren hat, haben diese beim letztjährigen Werkstattfest etwa Traktorfahrten im Anhänger über das Gelände der Mariaberger Landwirtschaft organisiert – der absolute Höhepunkt für viele der Beschäftigten in den Werkstätten und den Fördergruppen.
Musik als Universalsprache
Eine pädagogische Allzweckwaffe ist in der Fördergruppe die Musik: Gemeinsames Singen und Musizieren taucht in den Wochenplänen aller Teams auf. Ein Gitarrenlehrer besucht zum Beispiel dienstags das Haus Faigle und mittwochs die Mariaberger Fördergruppen und spielt und singt mit den Klienten. Im Team 3 beginnt das mit einem Begrüßungslied, in dem alle Anwesenden angesprochen werden. Massimo Burgarello spielt aufmerksam und gut gelaunt mit Edeltraud Specht-Tsouvaltzis zusammen die Klanghölzer dazu. »Es gibt kein Patentrezept, das auf jeden Klienten passt – da müssen wir hochflexibel sein und auf den Einzelnen eingehen«, so Nicole Binder und ihre Kollegin in der Fachbereichsleitung, Yvonne Wagner. »Was wir machen, hat pädagogisch Hand und Fuß.« (GEA)