TÜBINGEN. Ein 49-Jähriger aus einer Albgemeinde muss sich derzeit vor der 1. Großen Strafkammer des Tübinger Landgerichts verantworten. Ihm wird sexueller Missbrauch seiner beiden Stieftöchter vorgeworfen. Die beiden jungen Frauen waren per Videoübertragung vom Richter vernommen worden. Am Donnerstag versuchten die Rechtsanwälte des Angeklagten, die Glaubwürdigkeit der beiden jungen Frauen, die nicht im Gerichtssaal anwesend waren, zu erschüttern.
Laut Verteidiger Steffen Hammer habe die heute 20-Jährige zu einem von ihr angezeigten Vergehen des Stiefvaters an ihr eine Tageszeit angegeben, die nicht stimmen könne. Und aus der Präsenz der jüngeren Schwester in den sozialen Medien könne man herleiten, dass die seit Kurzem 19-Jährige in der Hauptverhandlung Falschaussagen getätigt habe.
Schon als Kind unsittlich berührt?
Am Donnerstagvormittag sagten nacheinander die Psychotherapeutinnen der beiden jungen Frauen aus. Beide waren von den Schwestern jeweils von der Schweigepflicht entbunden worden. Die Therapeutin der jüngeren Frau beschrieb die zum Zeitpunkt der Taten 17-jährige Patientin als »erschreckend vernünftig für ihr Alter.« Sie habe sich zu Beginn der Therapie auf aktuell brennende Themen fokussiert, auf ihren Aufenthalt in einer Wohngruppe und auf ihre Ausbildung.
Später offenbarte die junge Frau der Therapeutin, der Stiefvater sei während eines Urlaubs am Bodensee sexuell übergriffig gewesen. Am folgenden Tag habe sie riesigem Ärger mit ihrer Mutter und ihrer Schwester bekommen. Der Stiefvater habe sie schon früher unsittlich berührt, das habe begonnen, als sie in der zweiten oder dritten Klasse gewesen sei.
Mädchen in besorgniserregendem Zustand
Die Therapeutin erklärte weiter, der jungen Frau sei es schwergefallen, über Sexualität zu reden, denn dabei entstünden Bilder, welche die Familie beträfen. Zudem habe die Mutter, als sich das Mädchen ihr offenbaren wollte, sehr negativ auf die Beschuldigung des Angeklagten reagiert. Auf die Frage, ob die mittlerweile 19-jährige Probleme damit habe, ihren Alltag zu strukturieren, antwortete die Therapeutin: »Nee! Die ist topfit!«
Während die 19-Jährige ihre Psychotherapie abbrach, ist ihre 20-jährige Schwester noch in Behandlung. Sie sei zu Beginn der Sitzungen in besorgniserregendem Zustand gewesen, sagte ihre Therapeutin. Sie habe kaum gegessen, sie habe dazu geneigt, sich selbst zu verletzen und defensiv zu handeln. Sexuelle Übergriffe habe sie früh während der Therapie erwähnt und in den Sitzungen viel geweint.
Schläge und Gewalt
Körperliche Übergriffe habe die junge Frau nie thematisiert. Dennoch, so die Therapeutin, habe es Schläge und Gewalt gegeben, von beiden Elternteilen: Nach Angaben der jungen Frau sei das Jugendamt in der Familie ständig präsent gewesen. Ihre Nebenklagevertreterin Safak Ott fragte die Therapeutin, ob die junge Frau simuliere. Antwort: »Nein. Ich empfinde sie als absolut ehrlich.«
Als nächste wurde eine Sachbearbeiterin des Kreisjugendamts Reutlingen in den Zeugenstand gerufen. Von ihren Vorgesetzten war sie nur mit einer eingeschränkten Aussagegenehmigung ausgestattet worden. Außerdem wachte ein Begleiter darüber, dass sie nicht mehr aussagte, als es dem Amt lieb war. Dabei ging es um das Thema Gewalt innerhalb dieser Familie.
Richter: Habe die Faxen dicke
Richter Armin Ernst sagte deutlich, was er davon hielt: Er habe die Faxen der Jugendämter langsam dicke. Das Gericht akzeptiere dieses Verhalten nicht. Er drohte, die entsprechenden Akten, die nicht zur Einsicht freigegeben worden waren, zu beschlagnahmen. Zudem sagte er der Zeugin, sie möge ihren Vorgesetzten ausrichten, dass die Strafkammer eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen das Reutlinger Jugendamt einlegen werde.
Das Verfahren wird am 20. Februar fortgesetzt. Richter Ernst folgte dem Antrag von Verteidiger Hammer, zu diesem Termin weitere Zeugen zu laden.
Im Gerichtssaal
Gericht: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Dr. Petra Krüger, Margarete Wiedenmann. Staatsanwaltschaft: Rotraud Hölscher. Verteidiger: Steffen Hammer, Matthias Bauerfeind. Nebenklagevertreterinnen: Safak Ott, Katrin Lingel. Gutachterin: Dr. Marianne Clau. (GEA)