TÜBINGEN/KREIS REUTLINGEN. Zu Prozessbeginn am Landgericht Tübingen hatte der 69-jährige Angeklagte gerade mal das zugegeben, was die Staatsanwaltschaft ohnehin schon wusste: Dass er Nacktfotos von der damals 13-jährigen Tochter seiner Lebensgefährtin gemacht hat. Vehement bestritten hatte er jedoch, das Mädchen missbraucht zu haben. Am zweiten Verhandlungstag hatte der Mann jedoch ein umfängliches Geständnis abgelegt. Alles stimme, was in der Anklage zu lesen ist, betonte er auch gestern, am dritten Tag des Prozesses gegen ihn.
Und es folgte gleich die nächste Überraschung: Während der 69-jährige Kranführer, Schreiner und Restaurator sowie studierter Scout für Ballspielarten in der einstigen DDR über sein Leben plauderte, verhedderte er sich in seinen zahlreichen Beziehungen, kriegte die Daten und Frauen nicht mehr zusammen. Ganz offen und frei herausgab er allerdings zu, dass er schon einmal zu einer 4,5-jährigen Haftstrafe verurteilt worden sei – und zwar genau wegen des gleichen Delikts, weswegen er nun wieder vor einem Gericht steht: sexuellem Missbrauch der Tochter einer Lebensgefährtin.
Im polizeilichen Führungszeugnis des Mannes tauche diese Strafe nicht mehr auf, weil »die Tilgungsfristen« überschritten seien, wie Richter Dirk Hornikel ausführte. Über sich selbst berichtete der Angeklagte, er sei 1954 in Bautzen geboren worden, habe in Leipzig studiert (Ballsportarten). Ende der 1970er-Jahre habe er versucht, sich in den Westen abzusetzen, doch er sei an der tschechischen Grenze abgefangen worden. 20 Monate Haft bekam er, lernte im DDR-Knast den Beruf des Kranführers, flüchtete dann 1989 erneut, dieses Mal mit der damaligen Partnerin und ihren Zwillingen über Ungarn nach Westdeutschland.
In Bayern habe er Kunstschreiner und Restaurator gelernt, vermeintlich, um der Strafe wegen des begangenen Missbrauchs der Tochter seiner Frau zu entgehen. Er flüchtete abermals, Gran Canaria war diesmal das Ziel. Auch dort lernte er sogleich eine Frau kennen, mit der er bald nach Köln zog. In der Rheinmetropole holte ihn der Missbrauchsvorwurf ein, er musste ins Gefängnis. Seine Frau trennte sich von ihm, doch die nächste ließ nicht lang auf sich warten.
Mit ihr machte er 2019 Urlaub auf der Schwäbischen Alb, wohin er alsbald mit seiner Geliebten auch den Wohnort verlegte. Diese Frau war im Übrigen die Cousine seiner nächsten Flamme – und deren Tochter hat der Angeklagte im Jahr 2020 missbraucht, weswegen er nun erneut vor Gericht steht, jetzt allerdings in Tübingen vor der 3. Großen Jugendkammer.
Seine Lebensgefährtin, die Mutter des Opfers, hatte in ihrer Aussage vor dem Landgericht alles bestritten. Die Vorwürfe würden nicht zutreffen, behauptete sie. Obwohl der Angeklagte da zumindest schon ein Teilgeständnis abgelegt hatte. Das Paar wohnt im Übrigen immer noch zusammen. »Ich habe ihr alles gestanden, wir sind kein Liebespaar mehr – teilen uns aber die Wohnung weiterhin«, so der 69-Jährige.
Das heute 17-jährigen Opfer sei schwer traumatisiert, vermutlich von den Erlebnissen mit dem Angeklagten, sagten zwei Betreuer aus ihrer Wohngruppe in Sachsen am Mittwoch vor Gericht als Zeugen aus. Eine Reittherapie tue der jungen Frau gut, eine Psychotherapie habe sie gerade begonnen. Kognitiv sei sie auf dem Stand einer Zwölfjährigen, betonte der Sozial- und Traumapädagoge. »Jede Herausforderung und jede Anforderung an ist eine Überforderung für sie«, betonte er. Die Verhandlung wird am Mittwoch, 29. November, fortgesetzt. (GEA)