TÜBINGEN. Aussage stand gegen Aussage. Die Öffentlichkeit war teilweise ausgeschlossen. Das Verfahren gegen den 49-Jährigen erwies sich als eine für alle Beteiligten hochemotionale Angelegenheit. Nicht zuletzt weil es um die Glaubwürdigkeit der beiden heute 20 und 19 Jahre jungen Frauen ging, die ihren Stiefvater beschuldigten, sie sexuell missbraucht zu haben, als sie noch Kinder waren.
In seiner Urteilsbegründung ging der Vorsitzende Richter Armin Ernst immer wieder auch auf das ein, was sich hinter den verschlossenen Türen des Saals 120 im Tübinger Landgericht zugetragen hatte. Tränen seien geflossen. Unausgesprochen blieb, dass offensichtlich alte Wunden aufgerissen wurden, etwa als die Verteidiger die beiden jungen Frauen der Falschaussage bezichtigten.
In deren Aussagen fanden sich Widersprüche, die der gestern nicht erschienene Verteidiger Matthias Bauerfeind sezierte. An Steffen Hammer, den anderen Verteidiger des 49-Jährigen, gerichtet stellte Richter Ernst klar: »Wir sind nicht der Meinung, dass es sich um Prozessbetrug handelt.« Das Gericht folgte vielmehr der Analyse von Gutachterin Marianne Clauss, welche die Aussagen der beiden jungen Frauen am vorletzten Prozesstag, als »ohne wesentliche Zweifel zuverlässig« bezeichnet hatte.
Demnach war das Gericht davon überzeugt, dass der Mann beide Stieftöchter sexuell missbraucht hat. Der Richter betonte: »Nichts, aber auch gar nichts spricht für ein Lügenkomplott.« Die Frage war nun, wie alt die beiden Mädchen waren, als die Taten geschahen. Das festzustellen sei schwierig gewesen. Ausschlaggebend für das Urteilsmaß war der Altersabstand der beiden Mädchen zur Schutzaltersgrenze von 14 Jahren.
Zugunsten des Angeklagten habe das Gericht angenommen, dass er die ältere der beiden nach deren zehntem Geburtstag erstmals unsittlich berührt habe. Die jüngere der beiden allerdings sei bei der ersten angenommenen Tat noch ein Jahr jünger gewesen.
Die Kammer musste schätzen, ob und wann der Mann die Mädchen oberhalb oder unterhalb der Kleidung berührte und wie oft er sexuell motivierte Handlungen an ihnen ausübte. Laut Richter Ernst sprach vieles dafür, dass sich die sexuellen Handlungen bis hin zu Penetration und Oralverkehr im Laufe der Zeit steigerten. Die Kammer kam, beide Schwestern betreffend, auf zusammen 128 Fälle von sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener und 78 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern.
Oberstaatsanwältin Rotraud Hölscher forderte eine Haftstrafe von acht Jahren für den Mann. Dem schloss sich die Nebenklage an. Soweit wollte die Kammer nicht gehen. Sie fasste die Einzelstrafen straff zusammen und verurteilte den Mann zu drei Jahren und neun Monaten Haft. Zudem hat der Mann Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 Euro plus Zinsen an die ältere und 10.000 Euro plus Zinsen an die jüngere der Schwestern zu bezahlen.
Beim nun Verurteilten verursachte die Urteilsverkündung einen unkontrollierten Tremor des rechten Arms. Die beiden jungen Frauen, so Richter Armin Ernst hätten »ein großes Päckchen durch die dysfunktionale Familie mitgebracht.« Auch sie dürfte der Prozess nicht unbeschadet gelassen haben. Die ältere der beiden habe Phasen, in denen sie das Haus nicht verlassen könne. Die Jüngere ist nach wie vor in psychologischer Behandlung. (GEA)
Im Gerichtssaal
Gericht: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Dr. Petra Krüger, Margarete Wiedenmann. Staatsanwaltschaft: Rotraud Hölscher. Verteidiger: Steffen Hammer, Matthias Bauerfeind. Nebenklagevertreterinnen: Safak Ott, Katrin Lingel. Gutachterin: Dr. Marianne Clauss.