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Schulalltag ohne Sanktionen? Psychologe erklärt in Münsingen, wie das gehen soll

»Neue Autorität« war das Thema einer schulübergreifenden Fortbildung für Pädagogen in Münsingen.

Wie gelingen Kommunikation und sozialer Umgang an der Schule? Das war Thema in Münsingen.
Wie gelingen Kommunikation und sozialer Umgang an der Schule? Das war Thema in Münsingen. Foto: Chris/adobe stock
Wie gelingen Kommunikation und sozialer Umgang an der Schule? Das war Thema in Münsingen.
Foto: Chris/adobe stock

MÜNSINGEN. »Neue Autorität«: Was steckt hinter diesem Begriff und wie lassen sich damit verbundene pädagogische Konzepte im Schulalltag umsetzen? Mit diesen Fragen befassten sich rund 250 Teilnehmer des gemeinsamen pädagogischen Tags der Stadt Münsingen in der Alenberghalle. Rebecca Hummel, Leiterin des Amts für Bildung, Soziales und Ordnung, hatte die Veranstaltung gemeinsam mit Andreas Bosch organisiert. Bosch ist Rektor der Gustav-Mesmer-Realschule, als geschäftsführender Schulleiter der Münsinger Schulen hatte er nicht nur Lehrer, Sozial- und Verwaltungsmitarbeiter sämtlicher Münsinger Einrichtungen - von der Grund- über die berufliche Schule bis zum Gymnasium - , sondern auch etliche Netzwerk- und Bildungspartner eingeladen.

Warum? Weil sie es sind, die die jungen Leute nach dem Schulabschluss übernehmen und womöglich mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Martin Lemme, Psychotherapeut und Coach, gilt als führender Experte für das Thema »neue Autorität« in Deutschland. Er gab den Teilnehmern Anregungen und Praxisbeispiele dafür, wie das Beziehungsnetzwerk zwischen Eltern, Schülern und Lehrern so gestärkt werden kann, dass idealerweise ein Klima entsteht, in dem ein Umgang möglich ist, der ohne Strafe und Sanktion auskommt. Die Grundidee: »Es geht nicht darum, Macht auszuüben und jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, von dem ich möchte, dass er es tut. Sondern darum, jemanden, der das gerade nicht will, zu fragen: Was ist bei Dir los, dass Du Dich gerade wehrst?«

»Man muss sich die Beziehung zu den Schülern täglich erarbeiten und aushandeln«

Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Die Münsinger Schulen sind weder Brennpunktschulen noch gibt es gehäuft akute Probleme mit extremer Gewalt oder Mobbing. Aber: Die Zeiten, in denen der Lehrer wie der Pfarrer als reine Autorität anerkannt wird, der man mit Respekt begegnet, sind auch hier vorbei, berichtet Bosch. »Man muss sich die Beziehung zu den Schülern täglich erarbeiten und aushandeln«, sagt er. Die Rahmenbedingungen werden schwieriger, »ich nehme unsere Zeit zunehmend als gefühlsstressig wahr«, so Bosch, »wir leben in einer hysterischen Panikgesellschaft, in der reflexartig draufgehauen und sanktioniert wird.«

Stefanie Bückle, stellvertretende Leiterin der Schillerschule, pflichtet ihrem Kollegen bei. Auch sie bemerkt eine abnehmende Fähigkeit zur Selbstregulierung und mangelndes Durchhaltevermögen, das unter anderem auch mit der Art des Medienkonsums zusammenhänge: Kurze Videos im Internet werden langen Texten vorgezogen. Es gebe Schüler, berichtet Bosch aus der Praxis, die eigentlich gut in Mathe seien, Aufgaben aber nicht lösen könnten, weil sie die schriftliche Aufgabenstellung nicht verstehen.

In diesem Feld gilt es, Schüler abzuholen, Vertrauen aufzubauen, Konflikte zu vermeiden und Streit zu schlichten. Nur wer als Pädagoge souverän auftritt, strahlt auch Autorität aus, meint Martin Lemme. Sein Tipp: Raus aus der Isolation. Das gilt in mehrfacher Hinsicht. Die Schule nicht als Insel zu betrachten, sondern als Teil eines Sozialraums zu begreifen und zu gestalten, ist ein wichtiger Baustein. Als Beispiel nennt er die Rütlischule. Die Hauptschule im Berliner Problemviertel Neukölln machte vor 18 Jahren Schlagzeilen. Inzwischen sei sie eine »ganz normale Schulwelt ohne Gewalt«, so Lemme.

»Ablaufpläne für kritische Momente gibt es nicht nur bei der Feuerwehr«

Aus der Haupt- wurde eine Gemeinschaftsschule, gelernt wird dort von Klasse 1 bis 10 gemeinsam, auf dem Bildungscampus sind auch zwei Kitas und ein Jugendzentrum angesiedelt. Sozialarbeiter der Jugendhilfe unterstützen die Lehrer, die Lemme ebenfalls zu mehr Interaktion und weniger Isolation aufruft. Er rät den Pädagogen, auch außerhalb der Unterrichtseinheiten mehr Präsenz zu zeigen - beispielsweise in der Pause auf dem Schulhof, über die bloße Aufsicht hinaus, nicht als Drohgebärde, sondern als Angebot.

Innerhalb des Kollegium helfe es, sich besser zu vernetzen und auszutauschen, vor allem auch von Fach- zu Klassenlehrer. So werden Probleme in einer Klasse frühzeitig erkannt und benannt. Sein Rat: Sich auf Situationen vorbereiten. »Ablaufpläne für kritische Momente gibt es nicht nur bei der Feuerwehr«, verdeutlicht Lemme. Anstatt Sanktionen zu verhängen empfiehlt er, Schüler mit Szenarien zu konfrontieren: Was droht, wenn Leitplanken des Miteinanders an der Schule oder Abmachungen nicht eingehalten werden? »Wenn ich mir überlege, was ich tue, und es auch klar kommuniziere, erhöhe ich meine Handlungsmöglichkeiten in der Situation«, so Lemme. Transparenz und Kooperation zwischen Schulleitung, Lehrenden und Eltern seien dabei genauso wichtig wie Klarheit: Ist die Position des Gegenübers bekannt, sind die Spielregeln klar - das schafft Sicherheit, Verlässlichkeit und Vertrauen. (GEA)