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Schneiderin macht in Gächingen aus Altem tragbare Erinnerungen

Schneiderin Cordula Wagner macht in ihrem Gächinger Atelier so ziemlich »alles mit Nadel und Faden«.

Die Liebe zur Schneiderei hat sie von ihrer Oma:  Cordula Wagner sitzt gerne an der Nähmaschine. Am liebsten wertet sie Altes so
Die Liebe zur Schneiderei hat sie von ihrer Oma: Cordula Wagner sitzt gerne an der Nähmaschine. Am liebsten wertet sie Altes so auf, dass es zum Lieblingsstück wird, anstatt auf dem Müll zu landen. Foto: Marion Schrade
Die Liebe zur Schneiderei hat sie von ihrer Oma: Cordula Wagner sitzt gerne an der Nähmaschine. Am liebsten wertet sie Altes so auf, dass es zum Lieblingsstück wird, anstatt auf dem Müll zu landen.
Foto: Marion Schrade

ST. JOHANN-GÄCHINGEN. Stoffe und Spitzen, alte und neue, Aufbewahrungsboxen voller Reißverschlüsse, Garnspulen, Schnallen, Klettverschlüsse und Knöpfe stapeln sich in den Regalen bis unter die Decke. Mittendrin sitzen Cordula Wagner und Silvia Schiewe an ihren Nähmaschinen. Die beiden Frauen, Chefin und Mitarbeiterin, entwerfen und fertigen individuelle Stücke – Kleider, Taschen, alles, was man an und bei sich tragen kann. Auftragsarbeiten für Firmen, Strickereien und Stickereien gehören genauso zum Geschäft wie teils auch sehr ausgefallene private Aufträge. »Unser Motto ist: Wir machen alles mit Nadel und Faden«, sagt Cordula Wagner. Dann hält sie kurz inne, und lacht. »Bis auf alte Unterhosen flicken.«

»Es hat mir schon immer gefallen, in verschiedenen Töpfen zu kochen«

Vor fast 25 Jahren hat sie sich mit ihrem Atelier »Tochi Production« – benannt nach ihren Söhnen Tobias und Christian – in Gächingen selbstständig gemacht. Viele Jahre lang hat sie überwiegend alleine gearbeitet, vor zwei Jahren ist Silvia Schiewe dazu gekommen. Die Chemie stimmt, das ist nicht selbstverständlich, in einem kleinen Atelier aber die Grundvoraussetzung dafür, dass es funktioniert. »Es hat mir schon immer gefallen, in verschiedenen Töpfen zu kochen. Ich brauche die Abwechslung«, sagt Cordula Wagner. Trachtenjacken für Musikkapellen schneidert sie genauso wie das Häs der Kirchberger Hexadeifel, das sie, den Wünschen der Narren entsprechend, mit entworfen hat. Ein Firmenkunde lässt sein Logo von den beiden Frauen auf die Arbeitskleidung seiner Mitarbeiter nähen und so manche Braut ihr Kleid von der Stange so anpassen, dass es sitzt, als wär’s ihr vom ersten bis zum letzten Stich auf den Leib geschneidert.

Vor Silvia Schiewe auf dem Nähmaschinentisch liegt ein Stück weiches Leder. Dem Zuschnitt ist schon anzusehen, was es werden soll: eine Laptop-Tasche. Ein Kunde hat sie bestellt – ein Auftrag, der ganz nach dem Geschmack der beiden Frauen ist. Etwas vom Entwurf über den Schnitt und – wenn’s mehrere Exemplare werden sollen – einen Prototypen bis hin zum fertigen Modell zu begleiten, macht Cordula Wagner am meisten Spaß. Denn meistens steckt dahinter mehr als nur der Wunsch, ein bestimmtes Produkt zu besitzen: »Oft bringen uns Menschen Sachen, an denen ihr Herz hängt.« So wie die Jacke, die auf einem Kleiderbügel darauf wartet, in etwas Neues verwandelt zu werden. Der Kundin passt das Kleidungsstück so, wie es jetzt ist, nicht. Wenn Cordula Wagner damit fertig ist, wird die Jacke der verstorbenen Mutter, an der die Frau sehr hängt, nicht nur einen neuen Schnitt haben, sondern auch ein tragbares Stück Erinnerung sein.

Nie vergessen wird die Gächingerin auch »ihre« Bräute. »Für meine Schwester habe ich das Kleid genäht.« Besetzt war es mit 8.000 Perlen, der Aufwand unglaublich. »Als ich die Tränen in den Augen des Bräutigams gesehen habe, hat sich alles bezahlt gemacht.« Eine andere Geschichte handelt von einer Braut, deren Robe Cordula Wagner angepasst hat: Die Frau kam nach der Hochzeit mit demselben Kleid wieder. Dieses Mal, um sich daraus ein elegantes Kostüm – Rock, Hose und Jacke – schneidern zu lassen.

Cordula Wagner liebt solche Aufgaben – nicht nur wegen der Herausforderung, sondern auch wegen der damit verbundenen inneren Haltung. »Wir sind zu einer schrecklichen Wegwerfgesellschaft geworden«, bedauert sie. Das Phänomen Massenkonsum und dessen verheerende Folgen, sozial und ökologisch, lassen sich in kaum einer Branche besser beobachten als im Textilgeschäft. Ein Kleidungsstück hat keinen Wert mehr. Das war früher anders – auch wenn damals nicht alles besser war.

Das gilt insbesondere für die Art von Kleidung, für deren Weiterverarbeitung Cordula Wagner ein Faible entwickelt hat: Pelzmäntel und Lederjacken, die keiner mehr trägt. Entweder, weil sie aus der Mode gekommen sind oder schlichtweg moralisch für nicht mehr vertretbar erachtet werden. Das gilt insbesondere für die Mäntel aus Nerz, Persianer oder anderen Tierpelzen, für die ihre früheren Besitzer mehrere Tausende Mark ausgegeben haben. Pelze waren in der Nachkriegszeit Luxus, Statussymbole – und Schätze, die von ratlosen Erben bis heute irgendwo verschämt aufbewahrt werden.

»Wir sind zur einer schrecklichen Wegwerf-gesellschaft geworden«

Etwas daraus zu machen, anstatt es im Schrank hängen zu lassen und zu sagen »das ist von der Oma«, hält Cordula Wagner für die deutlich bessere Variante. Aus den jahrzehntealten Pelzen werden, oft in Kombination mit auffälligen Ledern, extravagante Handtaschen oder Bezüge für Hocker. Dass dem ein oder anderen diese Art des Upcyclings suspekt ist, weiß Cordula Wagner auch. »Ich bin Tierfreundin«, betont sie, um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen. Vögel, Katzen und Hunde haben immer zur Familie gehört. Ihre ersten Upcycling-Produkte waren Hundekissen, genäht aus dem Leder der Couch, die ihre damals noch kleinen Kinder durch hartnäckiges Hüpfen in die Knie gezwungen hatten. Neue Pelze, betont sie, »möchte ich auch nicht verarbeiten«. Aber: »Die, die bei mir landen, sind sehr alt. Das Tier ist vor Jahrzehnten gestorben. Und wenn ich den Mantel auf den Müll werfe, ist dem Tier damit leider nicht mehr geholfen.«

Mit den eigenen Händen etwas machen, selbst kreativ zu werden, Lösungen zu finden: Cordula Wagner hat von klein auf gesehen, wie das geht und es bald selbst versucht. Ihre Großmutter war ebenfalls Schneiderin, die Gächingerin selbst ist es seit Jahrzehnten mit Leib und Seele: »Handwerker können auf die Individualität der Menschen eingehen. Die Handtasche, die ich bei Deichmann kaufe, haben 10.000 andere Frauen auch. Die, die ich gemacht habe, gibt es nur einziges Mal.« (GEA)

Cordula Wagner teilt sich das Atelier seit zwei Jahren mit Mitarbeiterin Silvia Schiewe.
Cordula Wagner teilt sich das Atelier seit zwei Jahren mit Mitarbeiterin Silvia Schiewe. Foto: Marion Schrade
Cordula Wagner teilt sich das Atelier seit zwei Jahren mit Mitarbeiterin Silvia Schiewe.
Foto: Marion Schrade
Aus alten Pelz- und Lederjacken werden Taschen und Hocker, das Dirndl-Mieder war früher eine nie benutzte Tischdecke.
Aus alten Pelz- und Lederjacken werden Taschen und Hocker. Foto: Marion Schrade
Aus alten Pelz- und Lederjacken werden Taschen und Hocker.
Foto: Marion Schrade
Aus alten Pelz- und Lederjacken werden Taschen und Hocker. Foto: Marion Schrade
Aus alten Pelz- und Lederjacken werden Taschen und Hocker.
Foto: Marion Schrade
Das Dirndl-Mieder war früher eine nie benutzte Tischdecke Foto: Marion Schrade
Das Dirndl-Mieder war früher eine nie benutzte Tischdecke
Foto: Marion Schrade