PFRONSTETTEN/RAVENSBURG. So ganz versteht Rechtsanwalt Georg Menz die klagende Fraktion nicht. Ob nicht Gespräche besser gewesen wären als eine Anzeige? Ob man die unbequemen Nachbarn nicht besser auf ein Bier hätte einladen sollen? Oder zum Grillen? Im Saal des Amtsgerichts Ravensburg war daraufhin leises Lachen zu hören. »Die Grillen nicht«, sagte die von Menz befragte Zeugin. »Tun wir wohl«, sagte eine der Angeklagten, nur fahre man dazu wegen der Nachbarn halt weg.
Es war die nächste Runde im Prozess gegen den ehemaligen Pfronstetter Kurzzeit-Bürgermeister Michael Waibel. Er, seine Frau Bärbel sowie die beiden Töchter sind wegen gemeinschaftlicher Nachstellung - besser bekannt als Stalking - und Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes angeklagt. Familie Waibel und die Polizei hatten sich bereits geäußert, nun waren die Nachbarn dran. Aber auch die Angeklagten hatten nochmal einige »Beweismittel« zu ihrer Entlastung vorgelegt, Video-Schnipsel und Fotos, die belegen sollen, dass die Familie im Alltag von - wörtlich - einem Mob umgeben sei, der mit nichts anderem beschäftigt sei, als ihnen das Leben zur Hölle zu machen.
Richter mit Engelsgeduld
Richter Dr. Manuel Pflug bewies Engelsgeduld und schaffte es, beiden Seiten Gehör zu verschaffen, ohne den seltsamen Prozess um einen seit Jahrzehnten andauernden Nachbarschaftsstreit aus dem Ruder laufen zu lassen. »Ich muss - in Anführungszeichen - einige Stunden hier aushalten«, bat er um Disziplin. Ganz verhindern konnte er aber nicht, dass sich die Zeugen und die Waibels in die Haare bekamen. Angeklagte haben ja durchaus das Recht, selbst Fragen an Zeugen zu stellen. Pflug konnte nur darauf dringen, kurze und präzise Fragen zu stellen, die auch beantwortet werden können, und sich nicht in minutenlangen Statements zu verlieren. Die vier Anwälte der vier Beklagten hatten damit als Profis keinen Schwierigkeiten. Die Angeklagten selbst teilweise schon.
Die Strategie der Beklagtenseite war an diesem Verhandlungstag klar: Die Opfer sitzen auf der Anklagebank, Polizei und Staatsanwaltschaft seien parteiisch, die Waibels hätten von den 57 Straftaten, die sie anzeigen wollten, gerade mal drei nichtssagende Antworten bekommen. Sie seien Opfer der Nachbarn und des Staates - kein Rechtsstaat, eine Bananenrepublik, meinte Michael Waibel, von Strafvereitlung im Amt, sprach eine seiner Töchter. »Sie reden sich um Kopf und Kragen«, warnte Richter Pflug. Ein paar Videos ließ er noch zu, danach meinte er, er habe sich durchaus einen Einblick verschafft. Und beendete die launige, knapp einstündige Videoshow mit wackligen Handyaufnahmen: »Sie können Wünsche äußern, entscheiden, was gezeigt wird, tue ich.«
Gezückte Handys auf beiden Seiten
Auf den Videos waren neben einem Gartenfest in der Nachbarschaft mit dem gern mitgesungen Lied »Mein Nachbar ist ein Depp« vor allem Situationen zu sehen, in denen sich die Nachbarn gegenseitig filmten, High Noon mit gezückten Smartphones statt Colts in Weingarten. Wobei die geplagten Nachbarn zumindest eine Erklärung für ihr ungewöhnliches Tun hatten: Als ein Ehepaar im April 2022 genug von den aufdringlichen Waibels hatten, ging es zur Polizei. Stalking meinten die Beamten, aber sie müssten ein Protokoll führen und Beweise sammeln, was man ja schon als amtliche »Licence to Film« verstehen kann. »Hier läuft anscheinend jeder mit Handy und Taschenlampe rum«, kommentierte Richter Pflug. Und das 24 Stunden am Tag: Die Waibels konnten zum Beispiel belegen, dass im Nachbarhaus nachts um Elf sowie kurz vor und kurz nach Vier das Licht anging und wahrscheinlich können sie das auch mit Fotos belegen.
Anscheinend lebt man in der Dürerstraße und in den anliegenden Gässchen recht eng zusammen. Man trifft sich zum Geburtstagsfeiern, an Halloween mit den Kindern zum Fackelumzug, um gemeinsam auf den Nachwuchs aufzupassen oder einfach auf ein Schwätzchen vor den Garagen, wo dann auch schnell ein paar Menschen beieinanderstehen. Es ist eine beengte Siedlung, das Waibelsche Grundstück ist nie weit. Ob sie sich nicht vorstellen könne, dass das auf die Waibels bedrohlich wirken könnte, fragte Anwalt Pavel Orešnik eine Zeugin, und ob nicht auch die andere Seite Fehler gemacht habe? Das wies die Zeugin zurück. Richter Pflug hakte trotzdem noch einmal nach, ob es da nicht irgendwann eine »Jetzt schlagen wir zurück«-Stimmung gegeben habe.
Keine Arbeit, viel Zeit zum Stalken
Verstehen könnte man das, die Nachbarn fühlen sich vielen Jahren gelinde gesagt genervt. Man könne keinen Schritt machen, ohne von einem Waibel oder dem ganzen Quartett belehrt zu werden, was man gerade wieder einmal falsch mache, vom Barbecue - verboten! - bis zur Kindererziehung. Eine Zeugin ist in psychologischer Beratung, ihrem Mann geht es nicht viel besser. Sie fühlt sich als Frau besonders verfolgt, »unsere Männer sind ja tagsüber bei der Arbeit«. Was man von den Waibels nicht behaupten kann, einer geregelten Tätigkeit scheint keiner nachzugehen. »Wir würden ja gern, aber wir trauen uns nicht mehr aus dem Haus«, erklärte das Bärbel Waibel. Die Zeugin meinte dagegen, wenn sie arbeiten würden, hätten sie keine Zeit für den Unfug.
Am Dienstag sind weitere Zeugenbefragungen angesetzt, ob es schon zu Plädoyers und Urteil kommt, ist offen. Zwei weitere Verhandlungstage sind auf jeden Fall terminiert. Was sie sich eigentlich von der Anzeige bei der Polizei versprochen habe, fragte Anwalt Menz die Zeugin. »Dass wir wieder ganz normal leben können«, antwortete sie. Einmal habe tatsächlich Ruhe geherrscht in der Dürerstraße - als die Waibels wegen eines anderen Nachbarschaftsstreit unter Bewährung standen. (GEA)