MÜNSINGEN. Seit 1939 ist Gruorn ein verlassener Ort und doch scheint das ehemalige Dorf mitten im ehemaligen Truppenübungsplatz heute so lebendig wie nie. Wenn auch auf eine völlig andere Art. Früher lebten und arbeiteten hier mehr als 600 Menschen. Sie besuchten die Schule, gingen in die Kirche und fanden auf dem Friedhof ihre letzte Ruhestätte. Heute kommen viele Ausflügler hierher, besuchen Führungen und Konzerte, informieren sich über die Geschichte von Gruorn.
Nur noch das ehemalige Schulhaus und die Stephanuskirche erinnern an das einst rege Leben in Gruorn, bevor das Dorf 1939 auf Anweisung der Nationalsozialisten geräumt werden musste, damit der Truppenübungsplatz erweitert werden konnte. Doch nie haben die Gruorner ihre Heimat ganz abgeschrieben. »Über Jahrhunderte hinweg wurde in der Stephanuskirche als Mittelpunkt des Dorfes das Pfingstfest gefeiert. In Freud und Leid begleitete das Kirchlein die Bewohner. Am Karfreitag im Jahr 1939 fand hier der letzte Gottesdienst mit 33 Personen statt«, führte Prälat Markus Schoch beim Gottesdienst zum Auftakt des Pfingsttreffens aus. Da lag es nahe, dass sich die ehemaligen Gruorner stets an Pfingsten für ein paar kurze Stunden in ihrer alten Heimat einfanden. Ihr Dorf aber war vor ihren Augen dem Untergang geweiht, von Jahr zu Jahr fanden sie mehr Ruinen und zerfallende Gebäude vor.
Nur das alte Schulhaus und die Kirche schienen den Bedrohungen einigermaßen Stand zu halten. Doch Hoffnung auf Rettung gab es für sie nicht. »So weit das Auge reichte, alles nur trostlos und hoffnungslos. Heute aber sieht es so mitten im Biosphärengebiet nicht mehr aus. Wir finden ein fast schon idyllisches Bild vor: die Kirche mitten in der Natur, Ruhe und Frieden auf dem Friedhof um sie herum«, so Schoch. Niemand hätte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg je gedacht, dass aus diesem Totenfeld der Verwüstung, aus dem Grauen und Schrecken wieder menschliches Leben, Verständigung und Versöhnung entstehen und dass Gruorn wieder ein Stück weit aufgebaut werden könnte. 1966 strich das Denkmalamt sogar die historisch wertvolle Stephanuskirche aus dem Verzeichnis der Baudenkmäler und gab sie dem Verfall preis. Damit schien ihr Schicksal besiegelt zu sein.
Doch dann kam das Pfingstfest 1968. Einige ehemalige Gruorner schöpften trotz aussichtsloser Lage Mut und Kraft, sie verfolgten ihre gemeinsame Idee und generierten Mittel, um in den 1970er-Jahren ihre Kirche wieder herzurichten. Für Schoch ein »kühner Entschluss«, aber auch ein Zeichen dafür, wie viel Kraft, Energie, Hoffnung und Zuversicht in diesem Gebäude steckt. All dies ist auch jetzt wieder dringend nötig, wie Günter Braun, Vorsitzender des Komitees zur Erhaltung der Kirche in Gruorn, betonte. »Es gibt einiges zu sanieren und zu machen. Wir brauchen Menschen und Behörden, die für uns einstehen, damit wir unsere Kirche auch für die nächsten Jahrhunderte erhalten können«. Ohne Ehrenamt, so Braun, gäbe es die Stephanuskirche heute nicht mehr und ohne Ehrenamt würde es auch zukünftig nicht gehen.
Laut Architekt Dieter Schmid wird gleich nach Pfingsten mit der Sanierung des Chorbodens begonnen. Der Beton muss entfernt und ein diffusionsoffener Boden mit Sandsteinbelag aufgebracht werden. »Damit wollen wir die Feuchtigkeit in Griff bekommen«, sagte er. Zwei Dinge gibt es dabei besonders zu beachten: Die in der Kirche wohnenden Fledermäuse und ihr Nachwuchs dürfen nicht gestört oder vertrieben werden, außerdem wird die Maßnahme archäologisch begleitet, weil unter dem Boden Grablegen oder Reste einer romanischen Apsis vermutet werden. Im Herbst wird dann der Dachstuhl saniert, hier findet sich der größte Handlungsbedarf. Weiter soll Barrierefreiheit hergestellt werden, eine Revision der Außenentwässerung und der Steinmetzarbeiten sowie eine Sicherung der Ausmalung an den Wänden erfolgen. Rund eine Million Euro wird all dies kosten, doch finanzielle Förderung gibt es von vielen Seiten, etwa vom Bund als Eigentümer, vom Land, Landkreis und Denkmalamt, von der Stadt Münsingen und von vielen individuellen Spendern.
Wie wichtig der Erhalt von Gruorn ist, machte Bundestagsabgeordneter Michael Donth (CDU) – auch im Namen der anwesenden Landtagsabgeordneten Cindy Holmberg (Grüne), Manuel Hailfinger (CDU) und Rudi Fischer (FDP) - in seinem Grußwort deutlich. »Hier werden wir daran erinnert, wie es ist, wenn wir keine Demokratie haben«. Die Bürger von Gruorn hätten wie viele andere Menschen in Deutschland erlebt, was es heißt, wenn Demokratie durch Diktatur ersetzt werde und wohin dies führe. »Die Stephanuskirche mahnt uns, wie wertvoll, aber auch wie verletzlich Demokratie ist. Sie ist das Fundament unseres Staates, des Zusammenlebens und Miteinanders«. Römersteins Bürgermeisterin Anja Sauer beschrieb Gruorn als einen »besonderen Ort mit besonderem Zauber«. Geschichte und Religion kämen hier zusammen, Erinnerungen würden lebendig, die Mahnungen hörbar, für Recht und Gerechtigkeit einzustehen. Die Stadtkapelle Münsingen umrahmte den Gottesdienst musikalisch. (GEA)