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Aktuell Krisenhilfe

Neue Selbsthilfegruppe für Suizidhinterbliebene in Hohenstein

Trauer, Wut und viele Fragen: Einen Menschen durch Suizid zu verlieren, stürzt Angehörige oft selbst in eine tiefe Krise. Hilfe bietet eine neue Gruppe in Hohenstein.

Susanne Haid, Vera Ebe und Martha Wahl (von links) bieten  Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben, Unterstützung in
Susanne Haid, Vera Ebe und Martha Wahl (von links) bieten Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben, Unterstützung in Form von Selbsthilfegruppen und Beratungsangeboten. Foto: Marion Schrade
Susanne Haid, Vera Ebe und Martha Wahl (von links) bieten Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben, Unterstützung in Form von Selbsthilfegruppen und Beratungsangeboten.
Foto: Marion Schrade

HOHENSTEIN. Pro Jahr nehmen sich in Deutschland knapp über 10. 000 Menschen das Leben. Zurück bleiben Angehörige, die der Suizid eines nahestehenden Menschen oft unvorbereitet trifft. Das Chaos widersprüchlicher Gefühle ist kaum zu ertragen: Trauer, Schmerz, Wut und Enttäuschung. Mit ihnen einher gehen Scham, Schuldgefühle, Selbstzweifel - und die quälenden Fragen: Warum habe ich nichts bemerkt? Hätte ich es verhindern können? Warum möchte er/sie nicht mit mir weiterleben?

»Niemand muss diesen Weg allein gehen«, sagt Vera Ebe. Sie leitet eine neue Selbsthilfegruppe für Suizidhinterbliebene, die sich einmal im Monat im Port-Gesundheitszentrum in Bernloch trifft. Wann und wo genau, erfahren Interessierte nach dem Erstkontakt. Vera Ebe will einen geschützten Raum schaffen, in dem sich jeder aufgehoben und verstanden fühlt. Eine »Erzählpflicht« gibt es nicht, »jede und jeder kann im eigenen Tempo sprechen oder zuhören«, betont sie.

Sie ist nicht nur Gruppenleiterin, sondern selbst Betroffene. Ein Suizid im engsten Umfeld hat ihr Leben vor sieben Jahren völlig verändert und sie nachhaltig geprägt. Halt gegeben habe ihr damals eine Selbsthilfegruppe - aus dieser Erfahrung heraus möchte sie nun anderen Betroffenen helfen. Auf den Rollenwechsel und ihre neue Aufgabe hat sie sich in einem Seminar des Vereins Agus vorbereitet, in dessen Strukturen auch die Hohensteiner Gruppe eingebettet ist. Agus steht für »Angehörige um Suizid« und ist bundesweit aktiv.

»Unter anderen, die dasselbe Schicksal haben, können Betroffene Dinge aussprechen, die sie sonst nicht aussprechen können«

Martha Wahl ist Fachärztin für Psychiatrie. Auch sie leitet seit vielen Jahren eine Agus-Selbsthilfegruppe in Biberach - nicht aus der fachlichen, sondern aus der persönlichen Perspektive der Betroffenen. Sie steht Vera Ebe beratend zur Seite, ein Netzwerk geknüpft haben die Agus-Vertreterinnen auch mit Susanne Haid vom Arbeitskreis Leben, der in den Landkreisen Reutlingen und Tübingen ein breitgefächertes Beratungsangebot für Menschen mit Suizidgedanken, aber auch Hinterbliebene macht. Auf der Albhochfläche ist die Agus-Gruppe Hohenstein das erste Angebot dieser Art - entsprechend groß wird und darf der Einzugsbereich auch sein, betont Vera Ebe.

Teilnehmen darf jeder, »man muss weder bestimmte Fristen einhalten noch eine bestimmte Trauerphase erreicht haben«, sagt sie. Jüngere oder ältere Menschen, die ihren Partner, ein Kind, in Geschwister oder ein Elternteil verloren haben: Martha Wahl hat in ihrer langjährigen Tätigkeit schon viele Konstellationen erlebt. Die Betroffenen sind Menschen aller Altersklassen beiderlei Geschlechts, allerdings gibt es zwei statistisch belegte Tendenzen: Die Suizidrate unter Männern ist deutlich höher als unter Frauen, die Wahrscheinlichkeit eines Suizids steigt zudem mit dem Alter. Im Jahr 2021 gab es 9.215 Suizide, mit 1.010 waren die 55- bis 59-Jährigen am stärksten vertreten, 710 von ihnen waren Männer. Dementsprechend überwiegen die Frauen in den Selbsthilfegruppen für Angehörige meist ein wenig.

Wer wann kommt und wie lange er oder sie in einer Selbsthilfegruppe bleibt? Auch das ist von Mensch zu Mensch völlig unterschiedlich, betonen die drei Frauen. »Manche kommen zwei, drei Mal, andere jahrelang«, sagt Martha Wahl. »Viele empfinden die Verbundenheit mit Menschen, die dasselbe Schicksal haben, als entlastend. Sie können in diesem Umfeld Dinge aussprechen, die sie sonst nicht aussprechen können.«

»Eine Therapie ersetzen kann und soll die Gruppe nicht. Aber sie ist eine sinnvolle Ergänzung«

»Der Ablauf der Gruppentreffen ist klar strukturiert. Der Begrüßung und einer kurzen Blitzlichtrunde, in der alle ihre aktuellen Themen teilen dürfen, folgt ein Austausch über eigene Erfahrungen oder Probleme und hilfreiche Rituale und Strategien, zum Beispiel zum Umgang mit Jahrestagen oder Weihnachten oder mit der Begegnung von Unverständnis von Außenstehenden. Dabei steht das gegenseitige Zuhören, das Verstehen ohne zu werten im Mittelpunkt. Nochmal eine Blitzlichtrunde zum Ende des gemeinsamen Abends leitet den Abschied ein, vielleicht auch noch ein besinnlicher oder tröstlicher Text«, schildert Vera Ebe die Details.

Damit die Vertraulichkeit gewahrt bleibt und möglichst keine Verletzungen entstehen, gibt es ein paar Gruppenregeln", ergänzt Susanne Haid. "Die Idee ist, dass jeder Betroffene Kompetenz als Experte seiner selbst mitbringt und Hilfe zur Selbsthilfe leisten kann. Eine Therapie ersetzen kann und soll die Gruppe nicht", betont sie. Aber: Sie ist eine sinnvolle Ergänzung - auch, was den Austausch innerhalb der Familie angeht. "Jeder trauert anders, innerhalb der Familie belastet man sich damit vielleicht sogar ungewollt gegenseitig", sagt Martha Wahl. "Deshalb ist es sinnvoll, Hilfe von außen zu holen."

Das Gefühl, nicht alleine zu sein, sondern die eigene Erfahrung mit jemand anderem zu teilen, hat Vera Ebe gut getan. Susanne Haid bezeichnet sie als »Hoffnungsträgerin der Gruppe« - jemand, der es geschafft hat, einen guten Umgang mit dem Erlebten zu finden. »Durch die Krise hat sich vieles in meinem Leben verändert«, erzählt Vera Ebe, die vor zwei Jahren nach Hohenstein gezogen ist und in der Kinderbetreuung arbeitet.

»Ich kann morgens aufstehen und mich freuen - ohne die Schwere, die jahrelang da war«

»Ich lebe bewusster und dankbarer«, beschreibt sie ihr Lebensgefühl, »ich kann morgens aufstehen und mich freuen - ohne die Schwere, die viele Jahre lang da war. Antworten wird man nicht auf alles bekommen - aber Akzeptanz, damit man seinen Frieden damit machen kann«. Martha Wahl teilt diese Sichtweise: »Der Mensch hat das Bedürfnis, alles erklären zu wollen. Aber das läuft ins Leere.«

Hilfe in Krisensituationen

Die Agus-Selbsthilfegruppe für Suizidhinterbliebene in Hohenstein trifft sich einmal im Monat im Port-Gesundheitszentrum in Bernloch. Sie ist für alle Menschen aus der Region offen. Die Teilnahme ist kostenlos. Wer dabei sein möchte, meldet sich vorab telefonisch oder per E-Mail bei Vera Ebe (0162 6634116, hohenstein@agus-selbsthilfe.de). Einen persönlichen Eindruck machen können sich Interessierte auch am Mittwoch, 22. Oktober: Der Vortragsabend im Port von 19 bis 20.30 Uhr steht unter der Überschrift »Suizidale Krisen verstehen - Hilfe leisten - Hinterbliebene begleiten«. Den ersten Teil gestaltet Susanne Haid vom Arbeitskreis Leben, den zweiten Martha Wahl, zweite Vorsitzende des Bundesvereins Agus. Weitere Informationen zum Verein »Angehörige um Suizid (Agus)« gibt es unter www.agus-selbsthilfe.de. Dort finden sich Ratgeber, Podcasts, Seminare und mehr für Betroffene und Interessierte. Nicht nur Trauernde, sondern auch Menschen, die sich Sorgen um jemanden machen oder selbst in einer Lebenskrise stecken, berät der Arbeitskreis Leben (www.akl-krisenberatung.de). In Reutlingen und Tübingen gibt es Selbsthilfegruppen und die unterschiedlichsten Beratungsangebote für Menschen in Krisen - für Jugendliche genauso wie für Senioren, online, am Telefon oder persönlich. Wer in Not ist, bekommt am Telefon unter 07121 19298 (Reutlingen) und 07071 19298 (Tübingen) schnelle Erste Hilfe. Ein ausführliches persönliches Erstgespräch, sagt Susanne Haid, »ist innerhalb von zwei Wochen, meist aber schon in der ersten Woche möglich«. Das Angebot kann beispielsweise auch die schwere und teils lange Wartezeit bis zum Beginn einer Therapie überbrücken. (ma)

Viele Suizide, berichten die drei Frauen, passieren spontan: »Niemand hat etwas geahnt«, sagt Vera Ebe. Statistiken gibt es zwar nicht, mit Blick auf ihre eigenen Erfahrungswerte geht Martha Wahl aber davon aus, dass rund die Hälfte einen Abschiedsbrief hinterlässt. Die Motive bleiben dennoch oft unklar, häufig halten sich die Menschen kurz: »Ich liebe euch, verzeiht mir«, sei eine gängige Formulierung, so Wahl.

Sie arbeitet mit Hinterbliebenen daran, die Verbundenheit mit denjenigen, die sie verloren haben, nicht mit der permanenten Beschäftigung mit der Schuldfrage aufrechtzuerhalten, sondern mit schönen Erinnerungen. Vera Ebe weiß: »Das ist ein langer Prozess, der auch mit Rückschlägen verbunden ist. Aber er lohnt sich.« (GEA)