MÜNSINGEN. »Manchmal gibt es einfach Chancen im Leben. Und ich glaube, das war eine. Vielleicht war es gutes Karma und kommt irgendwann zurück«, sagt Mohamed Moutaz Almuhamed. Denn das, was dem 37-Jährigen in der Silvesternacht passiert ist, ist wirklich ganz und gar unglaublich. Der in Syrien geborene Münsinger fuhr auf dem Nachhauseweg von Ludwigsburg auf der Autobahn. »Es war neblig, man hat vielleicht hundert oder zweihundert Meter weit gesehen«, berichtet er. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit war deshalb auch auf 60 Stundenkilometer gedrosselt. »Ich war gemütlich unterwegs.«
Auf Höhe von Sindelfingen sah er im Scheinwerferlicht etwas Ungewöhnliches: Auf dem Mittelstreifen, der die jeweils drei Spuren der beiden Fahrtrichtungen voneinander trennt, lag etwas Weißes. »Ich wusste nicht, ob es real war oder nicht«, schildert er die Situation. Ein paar Schrecksekunden später reagierte Mohamed Moutaz Almuhamed: Er hielt auf dem Standstreifen an, wartete, bis der Verkehr nachließ und lief dorthin, wo er das weiße Etwas gesehen hatte »Glücklicherweise war zu der Zeit wenig los«, erzählt der Mann, der sich durchaus darüber bewusst ist, wie gefährlich eine solche Aktion sein kann.
Es war kurz vor Mitternacht und die meisten Menschen waren schon mit Feiern beschäftigt - und mit Böllern. Die Lust am Feuerwerk war es auch, die schuld daran war, dass es überhaupt zu dieser surrealen Situation kam, in der sich Mohamed Moutaz Almuhamed nun befand. Dass sein Gespür ihn nicht getrogen hatte, war klar, als er die Stelle erreicht hatte. Das weiße Etwas war ein Hund, der dort kauerte: »Er war völlig verängstigt, richtig panisch.« Der Münsinger reagierte schnell und richtig. Er redete dem Hund beruhigend zu und rief die Polizei. Von den Beamten, die etwa eine Viertelstunde später eintrafen, erfuhr er dann auch, dass der Besitzer sich dort ebenfalls schon gemeldet hatte - er war auf der Suche nach seinem Haustier, das, aufgeschreckt von der Silvesterknallerei, weggelaufen war.
Während des Wartens verstand der Hund offenbar, dass es sein Retter gut mit ihm meinte. Er wechselte vom Mittelstreifen auf den rechten Grünstreifen am Fahrbahnrand, setzte sich dort hin und winselte, »er war nur noch einen oder zwei Meter von mir entfernt«. Bei minus acht Grad harrte Mohamed Moutaz Almohamed bei seinem Findling aus, bis die Polizei eintraf. »Die Beamten haben mir dann gesagt, dass ich weiterfahren könne«, berichtet er. »Dass ich mein neues Jahr so begonnen habe, macht mich glücklich«, sagt der 37-Jährige. Aber: Dass niemand nach seinem Namen oder seiner Telefonnummer gefragt hat, macht ihn nachdenklich, vielleicht sogar etwas traurig.
»Es ist einfach eine Seele, die da steht und Hilfe braucht, ob nun Mensch oder Hund«
War es eine Selbstverständlichkeit, in dieser Situation anzuhalten und sich selbst in Gefahr zu begeben? Für Mohamed Moutaz Almohamed war es das, denn: »Es ist einfach eine Seele, die da steht und Hilfe braucht, ob nun Mensch oder Hund«. Für viele andere allerdings war es offenbar selbstverständlich, einfach weiterzufahren, kein anderes Auto hat an der Fundstelle angehalten.
Der Münsinger liebt Tiere und hätte selbst gerne einen Hund oder eine Katze. Ein Haustier zu haben, ist in Deutschland viel gängiger und alltäglicher als in Syrien, berichtet der Mann, der vor neun Jahren allein vor dem Krieg aus Aleppo flüchtete und sich hier eine neue Existenz aufgebaut hat. In seiner früheren Heimat hat er Maschinenbau studiert, um den Abschluss hier anerkannt zu bekommen, haben aber Unterlagen gefehlt. Mohamed Moutaz Almohamed akzeptiert das, anstatt zu hadern, hat er sich auf einen neuen Weg gemacht.
Zunächst hat er in der Sammelunterkunft für Asylbewerber in Reutlingen gewohnt, eine Arbeit hat er schnell gefunden und angenommen - auch wenn sie unbequem war. Mit dem Sammelbus fuhr er jeden Abend zur Nachtschicht in eine Firma in einem Laichinger Teilort, später arbeitete er im Security-Bereich - ebenfalls nachts. »Als ich gegangen bin, haben viele Männer in der Unterkunft Karten gespielt. Und als ich morgens heimgekommen bin, haben sie geschlafen«, schildert er seine damaligen Lebensumstände. Passivität und Resignation waren seine Sache nicht, Mohamed Moutaz Almohamed hat gelernt, sich bemüht, engagiert und integriert.
»Wenn Tiere vermisst werden, sind Polizei und Ordnungsamt zuständig«
2020 hat er die Chance genutzt und sich mit seiner Firma MMA Autopflegeservice im Münsinger Industriegebiet selbstständig gemacht. Sein Job ist es, selbst die verdrecktesten Autos wieder so sauber zu bekommen, dass sie aussehen wie neu - Tierhaare auf der Kleidung wären da problematisch, bedauert der Tierfreund, der mit seinem Sprung in die Selbstständigkeit auch von Reutlingen auf die Alb umgezogen ist. Er lebt in einem Dorf, einem Münsinger Teilort, und fühlt sich dort sehr wohl, auch wenn er dort ohne seine Familie sein muss, die von Syrien in die Türkei geflüchtet ist.
Auf seinem Weg hat er immer wieder Hilfsbereitschaft und Empathie erfahren - Werte, die er hochhält und selbst auch lebt. Dass niemand sonst angehalten hat, obwohl viele Autofahrer den Hund gesehen haben müssen, findet er genauso befremdlich wie das Verhalten vieler Menschen an Silvester. Wer Knaller und Raketen in die Luft jagt, findet er, sollte das mit Sinn und Verstand tun und Rücksicht auf die Tiere nehmen.
So sieht es auch Heidi Renner vom Reutlinger Tierheim. Dass in der Nacht des Jahreswechsels Feuerwerke gezündet werden und dass vielleicht auch schon am Abend jemand, der es nicht erwarten kann, was knallen lässt - geschenkt, das weiß man und kann sich darauf einstellen. Das Problem liegt woanders, erklärt sie. Viele können es kaum erwarten und lassen es von dem Tag an, an dem Feuerwerkskörper in den Supermärkten erhältlich sind, schon weit vor Silvester fröhlich zu allen Tag- und Nachtzeiten krachen. Das bedeutet für die Tiere unnötigen Stress und für die Besitzer unberechenbare Situationen. Die führen dann zu solchen Szenarien, wie sie Mohamed Moutaz Almohamed erlebt hat. Und auch im Reutlinger Tierheim, berichtet Heidi Renner, landen um den Jahreswechsel immer verschreckte Fundtiere, die zweifelsohne vom Feuerwerk in die Flucht geschlagen wurden.
Tierfreunde verzichten auf Pyrotechnik
Die Landestierschutzbeauftragte Julia Stubenbord rät grundsätzlich, kein Feuerwerk in der Nähe von Tieren zu zünden. »Wer Tiere liebt und deren Empfindungen respektiert, verzichtet auf Pyrotechnik, die mit grellen Lichtblitzen oder Knallgeräuschen verbunden ist«, betont sie. Bis auf wenige Individuen empfänden die Tiere Angst. Die Besonderheit bei Tieren liege darin, dass diese nicht abstrahieren könnten: Sie verstehen nicht, dass die Gefahr nach einer gewissen Zeitspanne vorüber ist. Sie empfinden den Zustand als unüberwindbar ohne Aussicht auf ein Ende, was das Leid noch potenziere, so die Tierärztin. (dpa)
Sie appelliert: »Den Hund grundsätzlich an die Leine nehmen. Und ab einer bestimmten Uhrzeit dann dem Tier zuliebe besser gar nicht mehr rausgehen.« Nicht alle Tiere sind gleich schreckhaft, »manchen macht es gar nichts aus«. Ob nun Hund, Katze oder Kanarienvogel mehr Angst haben, lässt sich nicht pauschal sagen, aber: Bei Angstkandidaten jedweder Art rät sie grundsätzlich dazu, dem Tier einen verdunkelten Rückzugsort zu schaffen. Ein Vogelkäfig, der sonst am Fenster steht, sollte dort weg oder abgedeckt werden.
Und was, wenn es doch passiert? Der Besitzer des Bobtails hat richtig reagiert: »Wenn Tiere vermisst werden, sind Polizei und Ordnungsamt zuständig«, sagt Heidi Renner. Wenn der Hund über alle Berge ist, sollte man also zunächst die Polizei anrufen. Diese verständigt dann den Tiernotdienst, der in der Regel beim Tierheim angesiedelt ist. Auch in Reutlingen gibt es solche Notdienste. Die Fachleute sind gut vernetzt und wissen, wie man in schwierigen Fällen weitere Hilfe bekommt. Die Gruppe Suchhunde Baden-Württemberg zum Beispiel hat es sich zur Aufgabe gemacht, entlaufene Hunde wieder zu ihren Besitzern zurück zu bringen und ist professionell ausgerüstet. Die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich, Kosten fallen allerdings für gefahrene Kilometer sowie den Einsatz von Wärmebildkameras, Drohnen oder Lebendfallen an. (GEA)