MÜNSINGEN. An seine letzten beiden Chorproben erinnert sich Stefan Lust noch genau. Wann die nächste sein wird, weiß der für den evangelischen Kirchenbezirk Münsingen zuständige Kantor nicht. Corona hat auch das kulturelle Leben im kirchlichen Rahmen mit voller Wucht ausgebremst. Es war der 12. März, an dem der Münsinger Kantor mit seinen Sängern an Bachs Johannespassion feilte. Bei einer gemeinsamen Probe der Kinder- und Jugendchöre am 14. März, erinnert sich Lust, »mussten wir schon mehr Abstand halten«. Aber weil die Schulen noch nicht geschlossen waren, traf sich auch der Chor – nicht wissend, aber schon ahnend, dass es für längere Zeit das letzte Mal sein würde.
Die intensive Probenarbeit war – zumindest für dieses Jahr – umsonst, zur Aufführung an Ostern kam es nicht mehr. Stefan Lust hat das Großprojekt auf 2021 verschoben, als er die Entscheidung traf, stand die Pandemie noch am Anfang, welche Ausmaße sie annehmen würde, war nicht abzusehen. Ob die Johannespassion zu Ostern im kommenden Jahr erklingen wird? Stefan Lust schüttelt skeptisch den Kopf. Selbst wenn die Vorschriften für größere Veranstaltungen sukzessive gelockert werden: Für ein Projekt wie die Passion sind die Proben enorm zeitaufwendig, das geht nicht von jetzt auf gleich.
Wann er seine Chorsänger und Orchestermusiker wieder sehen wird, weiß der Kantor nicht. Die Grundsatzentscheidung, wann und unter welchen Bedingungen wieder Proben möglich sein werden, trifft nicht der Kantor, sondern der Oberkirchenrat – konkret das Amt für Kirchenmusik in Württemberg – in Abstimmung mit der Landesregierung. Dabei bleibt die Kirche immer etwas defensiver als der Staat. Während das Land Konzerte mit weniger als 100 Zuhörern inzwischen wieder erlaubt, gestattet die Kirche solche Dimensionen zumindest bisher nicht.
»Ich darf immer noch kein Konzert veranstalten«, sagt der Kantor. Aber: Gottesdienste werden schon seit einigen Wochen wieder unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen gefeiert. Gemeinsam singen darf die Gemeinde zwar nicht. Dagegen, dass Solisten Musik machen, spricht aber nichts. Mit den »Musikalischen Abendgottesdiensten« hat Stefan Lust ein Format gefunden, das – mit viel Musik und kurzer Liturgie – nahe an ein Konzert herankommt. Dauern dürfen die Veranstaltungen allerdings nicht länger als ein »normaler« Gottesdienst in Corona-Zeiten – laut Landeskirche deutlich unter einer Stunde.
Wie sehr die Menschen in der Corona-Krise Musik vermisst haben, wurde beim ersten musikalischen Abendgottesdienst am Vorabend des Pfingstsonntags mit seiner Frau Kathrin-Susanne Lust (Violine) und der Sopranistin Ulrike Härter deutlich: Die nach Einhaltung aller Abstandsregeln verfügbaren Plätze im Kirchenschiff waren komplett besetzt, die Reaktionen durchweg positiv: »Das hat so gut getan, endlich mal wieder live Musik zu hören«, sagen Michaela Gahn und Ursula Roth, die seit vielen Jahren im Orchester der Martinskirche mitspielen. Die beiden Frauen, die sich dort ein Bratschen-Pult teilen, vermissen nicht nur die Proben und Konzerte, sondern auch die Begegnungen mit Musikern, die man schon ewig kennt oder neu kennenlernt.
Mit der in Reutlingen lebenden Sängerin Ulrike Härter arbeitet Stefan Lust regelmäßig zusammen, auch für die Johannespassion war sie als Solistin engagiert. Ebenso wie Dennis Marr, der die Tenor-Partien hätte singen sollen und nun gemeinsam mit Stefan Lust den zweiten musikalischen Abendgottesdienst diesen Samstag gestalten wird (siehe Infobox). »Viele, die bereits Konzertkarten gekauft hatten, haben nach der Absage auf eine Rückabwicklung verzichtet und das Geld stattdessen gespendet«, sagt Lust. Mit den musikalischen Abendgottesdiensten in professioneller Besetzungen will er sich nicht nur bei den Spendern bedanken, sondern auch die Künstler unterstützen, für die die Zeiten vielleicht noch etwas schwerer durchzustehen sind als für manch andere.
»Dieses Format, das im Grunde eine Abwandlung bisheriger Formen wie der geistlichen Abendmusik oder der Stunde der Kirchenmusik ist, wird uns wohl noch eine ganze Weile erhalten bleiben«, sagt Lust. Auch die nächstgrößere Dimension mit vierköpfigen Vokal-Ensembles, die mittlerweile erlaubt ist und beispielsweise von den MünSingers in der katholischen Christus-König-Kirche umgesetzt wird (Artikel links), ist für ihn noch keine Option: »Das ist mir zu heiß«, sagt Lust, der derzeit zwar ein Kantor ohne Chor, aber nicht ohne Arbeit ist.
Er hat Noten gesetzt, Orgelmusik in der Martinskirche aufgenommen, die auf den Online-Kanälen der Kirche abrufbar ist – und viel Zeit in Recherche und Information investiert. »Als Gottesdienste wieder erlaubt wurden, tauchte zum Beispiel die Frage auf, wie man mit den Orgeln umgehen muss, die ja von verschiedenen Leuten gespielt werden«, macht er ein Beispiel. Die Antwort: Die Hände des Organisten werden desinfiziert, die Tasten nicht, weil das den historischen Instrumenten schaden könnte. Sonderregeln gibt es in diesen Zeiten viele, Aktualisierungen folgen beinahe täglich. Besonders kompliziert liegt der Fall im Bereich Kirchenmusik auch, weil zwischen Sängern und Instrumentalisten, Solisten und Ensembles differenziert wird. Zum Einsatz von Blasinstrumenten beispielsweise hat die Landeskirche Ende Mai eine Information veröffentlicht, wonach bei Gottesdiensten im Freien der Einsatz von maximal 15 Bläsern für verantwortbar erachtet werde. Allerdings müsse der Abstand zwischen den Bläsern mindestens drei Meter, die Distanz zum Publikum sogar zehn Meter betragen.
Die Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin hat Empfehlungen zum Musizieren während der Pandemie herausgegeben, die auf verschiedenen Studien basieren.
MUSIKALISCHER ABENDGOTTESDIENST AM SAMSTAG, 20. JUNI
Tenor Dennis Marr singt, begleitet von Stefan Lust, Werke von Schütz und Händel
Den Musikalischen Abendgottesdienst am Samstag, 20. Juni, um 19 Uhr in der Münsinger Martinskirche gestaltet Kantor Stefan Lust (Orgel) gemeinsam mit dem Stuttgarter Tenor Dennis Marr. Neben dem Geistlichen Konzert »O süßer, o freundlicher Herr Jesu Christe« von Heinrich Schütz erklingen zwei Arien aus dem Oratorium »Der Messias« von Georg Friedrich Händel sowie zwei Arien und das berühmte »Hebe deine Augen auf zu den Bergen« aus dem Oratorium »Elias« von Felix Mendelssohn Bartholdy. Den Schlusspunkt bildet »Jesus bleibet meine Freude« aus der Bachkantate »Herz und Mund und Tat und Leben« in einer Bearbeitung für Tenor und Orgel. Außerdem wird Stefan Lust einige Sätze aus dem »Concerto del Signor Taglietti« von Johann Gottfried Walther spielen. Walther war ein Zeitgenosse Bachs und langjähriger Organist in Erfurt, er hat zahlreiche Orchesterwerke italienischer Komponisten wie Vivaldi, Albinoni oder Torelli für die Orgel bearbeitet. Der Eintritt ist frei, Spenden werden erbeten. Ein Teil des Programms erklingt auch im Gottesdienst am Sonntag, 21. Juni, um 10.15 Uhr in der Martinskirche. In Kirchen gilt ein Sicherheitsabstand von zwei Metern. Der Zutritt ist ausschließlich durch den Haupteingang möglich, wo ein Hand-Desinfektionsmittel bereitsteht. Personen, die in einem Haushalt zusammenleben, dürfen beieinander sitzen. Es stehen – je nachdem, wie viele Familien und Einzelbesucher kommen – bis zu 63 Sitzplätze zur Verfügung. Bei Bedarf wird die Empore mit weiteren 18 Plätzen geöffnet. Ein Mund-Nasenschutz wird empfohlen. Die Reihe wird fortgesetzt, der nächste Musikalische Abendgottesdienst ist am 11. Juli, das Programm steht noch nicht fest. (ma)
Untersucht wurden beispielsweise die Luftströme beim Spielen verschiedener Blasinstrumente und die damit einhergehende Bildung und Verbreitung von Aerosolen. Im Vergleich zu anderen Instrumenten müsse »beim Blasinstrumentenspiel von einem erhöhten Infektionsrisiko im Vergleich zum Spiel anderer Instrumente ausgegangen werden«, schreibt die Gesellschaft für Musikphysiologie und rät daher, falls gemeinsam musiziert werden soll, zu Plexiglasscheiben zwischen einzelnen Spielern und Textilabdeckungen auf den Schalltrichtern, die die Verbreitung von Aerosolen mindern soll.
Streich-, Zupf-, Tasten- und Schlaginstrumente werden als weniger riskant eingestuft, vorausgesetzt, man gibt sie nicht aus der Hand und sitzt mindestens 1,5 Meter weit auseinander. Vom Normalbetrieb sind nicht nur Orchester, sondern vor allem auch Chöre derzeit meilenweit entfernt: Aerosole könnten sich beim Singen – Abstandsregel hin oder her – über die Raumluft verteilen, mit jedem Sänger steige das Infektionsrisiko in geschlossenen Räumen, von denen die Gesellschaft abrät. Voraussetzungen, unter denen sich Stefan Lust in nächster Zukunft allenfalls vorsichtige Annäherungen an einen Probenbetrieb vorstellen kann.
»Kleine Instrumentalensembles könnten sich zu kurzen Proben mit Lüftungspausen in großen Räumen wie zum Beispiel dem Gemeindehaus treffen«, schildert er ein mögliches Szenario. Daran geknüpft ist die Hoffnung, dass dann in absehbarer Zukunft zwar weder Chor noch Orchester der Martinskirche und schon gar nicht beide gemeinsam, aber wenigstens einzelne Mitspieler die Gelegenheit haben werden, in den musikalischen Gottesdiensten für ein Publikum zu spielen. (GEA)