MÜNSINGEN. »Wir wollen ein bisschen Werbung machen für Geschichte in einer Zeit, in der alles über Likes im Internet geregelt wird«, sagt Georg Barfuß. Er ist Vorsitzender des Münsinger Geschichtsvereins, der in enger Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Münsingen regelmäßig Jahrbücher herausgibt. Mit dem neuesten, inzwischen achten Band gelingt den (Hobby-)Historikern das mit der Werbung ziemlich gut: Die Sammlung von Aufsätzen ist prädestiniert dafür, Menschen - auch jüngere - für die Vergangenheit zu begeistern. Die sechs Beiträge sind allesamt Beispiele dafür, wie die »große« Geschichte im Kleinen wirkt und durch die Lebensspuren»ganz normaler Menschen«, wie Barfuß im Vorwort schreibt, (be-)greifbar wird.
Einmal ins lokale Geschichtsbuch eingetaucht, fällt es schwer, es wieder aus der Hand zu legen. Die Autoren - von denen die wenigsten professionelle Historiker sind - schlagen spannende Kapitel aus sieben Jahrhunderten auf. Stadtarchivarin Dr. Carina Zeiler, die selbst mit zwei Beiträgen im Band vertreten ist, hat die Entstehung des Buchs begleitet und ist stolz auf das, was die Autoren in einer Fülle von Quellen gefunden und öffentlich gemacht haben.
Warum heißt ein Teil der Münsinger Altstadt hinter der Martinskirche im Volksmund bis heute »Tirol«? Diese Frage stand am Anfang der Recherchen von Annette Spindler aus Eningen. Das Rätsel, verrät Carina Zeiler, ist nur halb gelöst: Es gab zwar viele Zuwanderer aus dem alpenländischen Raum in Münsingen, aber kaum einer kam wirklich aus Tirol. Dafür ist Annette Spindler in Kirchenbüchern auf viele Schweizer gestoßen, die nach dem Dreißigjährigen Krieg in die teilweise völlig entvölkerten Dörfer Württembergs zogen. Anhand vieler kleiner Einzelbiografien wird das Leben auf der Alb im 17. Jahrhundert anschaulich.
Begehrt und misshandelt
Die Einträge in den Kirchenbüchern, und seien sie auch noch so kurz, sprechen teilweise Bände, manche rühren regelrecht. Einer davon handelt von Anna Lingin, über die im Hengener Totenbuch von 1676 zu lesen ist, dass ihr Mann sie so »tyranisch gehalten« habe, dass sie mit »blawen Mälern in das Grab gekommen«. Anders ausgedrückt: Die aus der Schweiz stammende Frau wurde vor ihrem frühen Tod mit 36 Jahren offenbar misshandelt - wie viele andere wohl auch. Annette Spindler beschreibt die Situation der zugewanderten Frauen, die als Ehepartnerinnen bei ärmeren oder verwitweten Männern zwar begehrt waren, denen aber offenbar wenig Wert beigemessen wurde. Uneheliche Kinder, deren Mütter beteuern, noch nicht einmal den Namen der Väter zu kennen, und Männer, die betrunken im Wirtshaus von der Stiege fallen und dabei zu Tode kommen: Die Autorin hat unzählige Geschichten gefunden, die im Gesamtbild ein lebendiges Zeugnis der damaligen Zeit geben.
Mit einem gänzlich anderen gesellschaftlichen und beruflichen Milieu in einer völlig anderen Epoche beschäftigt sich Carina Zeiler. Sie hat die medizinische Versorgung in Münsingen im 19. und 20. Jahrhundert aufgearbeitet: »Das ist ein weites Feld, da könnte man noch viel mehr machen«, schildert sie den Stand der Forschung. Die Quellenlage ist eher dünn, bei den Kreiskliniken findet sich nichts, die Dokumente, auf die sich die Historikerin stützt, liegen im Stadtarchiv und im Staatsarchiv Sigmaringen. Eines geht daraus zweifelsfrei hervor: Ärztemangel im Ländlichen Raum ist nicht erst in den vergangenen Jahren zum akuten Problem geworden - es war schon immer eins. »Trotz Eisenbahnanschluss und Infrastruktur war es offenbar schwer, Ärzte für die Alb zu finden«, sagt die Stadtarchivarin.
Medizin und Musikwissenschaft
Sie hat die Lebensspuren zweier Ärzte, Georg Gärtner und Julius Levi, nachverfolgt und auch Details zu deren Wirkungsorten gefunden. Das erste Krankenhaus war in der Spitalstraße, 1933 wurde es durch einen Neubau am Hungerberg ersetzt. Einige wichtige Fragen, schreibt Carina Zeiler am Ende ihres Beitrags, bleiben offen und sind es wert, dass man ihnen weiter nachgeht: Wie positionierte sich Gärtner als Mitglied im NS-Ärztebund? Führte er Operationen wie Zwangssterilisationen aus? Und welche Rolle hatte das Krankenhaus mit Blick auf die NS-Ideologie? Zeilers zweiter Beitrag hat das Dorf Apfelstetten zum Inhalt, dessen erste schriftliche Erwähnung 1324 im vergangenen Jahr gefeiert wurde.
Zeitlich in einem ähnlichen Kontext stehen die beiden Beiträge von Eberhard Zacher, der sich mit seinen Recherchen zur jüdischen Geschichte Buttenhausens seit Jahren verdient gemacht hat. Dieses Mal rückt er Karl Adler ins Zentrum: Der renommierte jüdische Musikwissenschaftler wurde in Buttenhausen geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte er zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Stuttgarter Musikwelt, bevor er 1933 ins Visier der Nationalsozialisten geriet. »Trotzdem konnte er viele seiner Glaubensgenossen vor der Verfolgung retten, bis auch er schließlich in die USA emigrierte«, schreibt Zacher. In einem weiteren Beitrag dokumentiert er die Deportationen der Opfer des Holocaust in Buttenhausen.
Spannendes aus der Feuerwehr-Geschichte
Sein Erstlingswerk, das breitere Kreise ansprechen und entsprechend viel Beachtung finden dürfte, legt Berthold Hofmann vor. Gemeinsam mit Co-Autor Karlheinz Geppert hat Hofmann, der bis 2022 insgesamt 26 Jahre lang Kommandant der Münsinger Feuerwehr war, die »Entwicklung der Feuerlöschgeschichte vom Feuereimer zur modernen Feuerwehr« aufgearbeitet. Gut 30 Seiten stark, spannt der Beitrag den zeitlichen Bogen von den Feuersbrünsten des Mittelalters bis zur aktuellen technischen Ausstattung der Münsinger Feuerwehr.
Ausgewertet haben Hofmann und Geppert zahlreiche Dokumente aus dem Münsinger Stadtarchiv, darunter auch die lokale Feuerordnung aus dem 18. Jahrhundert. Daraus lässt sich auch viel über die Lebensumstände der damaligen Zeit herauslesen. Um verheerende Stadtbrände wie den von 1671, dem 35 Häuser und 27 Scheuern zum Opfer fielen, zu vermeiden, gab es dezidierte Vorschriften zum Umgang mit Feuer und Licht. So war es beispielsweise verboten, nachts »Schmalz auszusieden«. Heute kaum mehr vorstellbar: Auswärtige Brandhilfe hatten die Münsinger Feuerwehrleute - konkret: alle männlichen Einwohner - in Orten von bis zu sechs Stunden Entfernung zu leisten. Heute hat die Feuerwehr der Kernstadt neun Fahrzeuge und 64 aktive Mitglieder, hinzu kommen weitere 253 Feuerwehrleute in den Stadtteilen. Zum Großteil sind sie immer noch ehrenamtlich für die Allgemeinheit im Einsatz, seit 2018 gibt es aber auch eine Handvoll hauptamtliche Kräfte: den Kommandanten, drei Gerätewarte und zwei Minijobber. (GEA)
Für Mitglieder kostenfrei
Mitglieder des Münsinger Geschichtsvereins können das neue Jahrbuch kostenfrei im Stadtarchiv abholen. Für alle anderen Interessierten ist der Band bei der Touristik Information in Münsingen erhältlich.