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Aktuell Demokratie

Joachim Gauck redet in Münsingen über »Erschütterungen« und Freiheit

Joachim Gauck, Ex-Bundespräsident und ehemaliger Leiter der Gauck-Behörde zur Aufarbeitung von Stasi-Unterlagen, spricht in der Münsinger Alenberghalle über die Gefahren für die freiheitliche Demokratie.

Bürgermeister Mike Münzing und Bundespräsident a.D. reden über Bedrohungen der Demokratie.
Bürgermeister Mike Münzing und Bundespräsident a.D. reden über Bedrohungen der Demokratie. Foto: Steffen Wurster
Bürgermeister Mike Münzing und Bundespräsident a.D. reden über Bedrohungen der Demokratie.
Foto: Steffen Wurster

MÜNSINGEN. Zum Ende der Veranstaltung füllt Joachim Gauck einen gedachten Osterkorb: Wahlrecht, Meinungsfreiheit Glaubensfreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit, eine unabhängige Justiz und nicht zu vergessen eine Parlamentsarmee, legt er in den Korb. Nicht davon ist selbstverständlich, sagt er, diese Errungenschaften wurden erkämpft und müssen verteidigt werden.

Der Bundespräsident a.D. hat ein Buch geschrieben und in der Münsinger Alenberghalle im Austausch mit Bürgermeister Mike Münzing über seine Gedanken berichtet. »Erschütterungen - Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht« lautet der Titel. Und der in der ehemaligen DDR aufgewachsene Gauck hat dazu einiges zu sagen. Selbst in einer Diktatur groß geworden, hat er einen vielleicht anderen Blickwinkel auf Freiheit als sein Publikum auf der Alb.

»Ich lernte schnell, dass man immer eine Wahl hat«

Gauck hat Theologie studiert und war in der DDR als Pfarrer und in Leitungspositionen in der dortigen evangelischen Kirche aktiv. In einer selbst ernannten "Arbeiter- und Bauernrepublik" hatte er es damit nicht leicht. Sein Vater wurde von einem russischen Militärgericht kurz nach Ende des Krieges nach Sibirien verbannt, viel Liebe zur stalinistischen DDR brachte Gauck nicht mit, er musste auch selbst erfahren, was Außenseitertum bedeuten kann. Aber: »Ich lernte schnell, dass man immer eine Wahl hat«, sagte er, auch in einer Diktatur. Für einen systemkonformen Aufsatz, für den er eine "1" bekommen hatte, schämte er sich lange. Mitmachen, Abstand halten, Widerstand - das seien die persönliche Entscheidungen, die jeder treffen müsse.

Ohne Rückgrat keine Demokratie, keine Freiheit: Diese Botschaft klang am Abend immer wieder durch. Populisten von links und rechts bedrohen die Republik von innen, Russland von außen - daran ließ der Klare aus dem Norden, von der Küste aus Fischland - heißt wirklich so - keinen Zweifel. Gauck kennt den Osten und den Westen, die Mentalitäten, die Politik. Und auch die Schwierigkeiten, die daraus erwachsen.

Der Westen solle den »Ossis nicht fehlende Dankbarkeit vorwerfen«, meinte er, eher ein bisschen Verständnis mitbringen. Zuerst einmal wähle die Mehrheit in den neuen Ländern eben nicht die AfD, »der große Teil ist angekommen«. Tatsächlich hält Gauck 20 Prozent der Stimmen für die Rechtspopulisten im Westen bedenklicher als die 35 Prozent im Osten. Für das gute Drittel gibt es zumindest historische Erklärungen, die sich auswachsen können: 12 Jahre Nazi-, dann 51 Jahre kommunistische Diktatur hätten ihre Spuren hinterlassen. »Wir sind jetzt da, wo der Westen in den 1960er-Jahren war.«

Besonders in einem Sektor würde das nachwirken. Unternehmergeist hätten die DDR-Oberen ihren Untertanen gründlich ausgetrieben: »Ohne die DDR-Zeit wäre Sachsen heute dort, wo Baden-Württemberg jetzt steht.« Sei gehorsam, dann wird es dir gut gehen: Das »uralte Prinzip« aus feudalen Zeiten hätten beide Diktaturen wieder zum Leben erweckt. Im Osten und im Westen hätten Populisten und Lügner eines gemeinsam: Sie wissen, was das Publikum hören will. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) würde etwa zynisch lügen, wenn es Russland nach den beiden Überfällen auf die Ukraine 2014 und 2022 mit berechtigten Sorgen entschuldigt.

»Das Recht des Starken beugt das Recht der Vielen«

Die Sorgen der Wähler von AfD und BSW müsse man ernst nehmen, Migration beschäftigt die Menschen und das Problem müsse und könne in der Mitte der Gesellschaft gelöst werden. Mit den Putinverstehern - besonders auch in der SPD - geht Gauck härter ins Gericht. »Loss of Reality«, nennt Gauck das Phänomen, dass ein breites Bündnis von Menschen sich die Realität schönredet. Mit der Nato hatte Russland jahrzehntelang keine Schwierigkeiten, der Ukraine im Budapester Memorandum 1994 die territoriale Unverletzlichkeit zugesichert - »das können und sollten Sie googeln«. Willi Brands Ostpolitik sei ein vielversprechender Ansatz gewesen, am Wesen der Sowjetdiktatur habe es aber nicht gerüttelt. Schlimmer noch, die Sozialdemokratie habe sich lieber mit den Machthabern auf ein Appeasement geeinigt, als den Widerstand im Ostblock zu unterstützen. Das wirke wohl nicht nur in der SPD immer noch nach.

Joachim Gauck signiert sein buch »Erschütterungen«.
Joachim Gauck signiert sein buch »Erschütterungen«. Foto: Steffen Wurster
Joachim Gauck signiert sein buch »Erschütterungen«.
Foto: Steffen Wurster

Gauck schlägt den Bogen von der nationalen zur internationalen Ebene. »Das Recht des Starken beugt das Recht der Vielen.« Bürger müssten ihre Rechte verteidigen, Staaten auch. Die Polizei darf auf einen Gangster schießen, die Bundeswehr auch. »Immer nur Liebsein befreit uns nicht vom Übel.« Irgendwann müsse man sich entscheiden: »Wollen wir immer nur die Guten sein? Oder wollen wir Freiheit und Recht auch verteidigen«? Gauck fordert Klarheit, zu einem »Weiter so« sagt der Widerständler aus DDR-Zeiten: »Das Böse ist eine Realität.« Die Wähler der Populisten stuft er so ein: »Menschen, die sagen, Wandel will ich nicht, Risiko will ich nicht, ich will, dass alle gleich sind und brauche eine klare Ansage von oben.« Das kann man auch auf die Außenpolitik in einer sich wandelnden Welt beziehen.

Joachim Gauck

Joachim Gauck, geboren am 25. Januar 1940 in Rostock, war in DDR-Zeiten in der evangelischen Kirche aktiv und beteiligte sich am Widerstand gegen das SED-Regime. Er war Mitglied in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, dann des Bundestags (Bündnis 90). Von 1990 bis 2000 stand Gauck als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen an der Spitze der oft nach ihm benannten »Gauck-Behörde«. Bundespräsident war er von 2012 bis 2017. (GEA)

Von den etwa 500 Gästen in der Alenberghalle erntete Joachim Gauck viel Beifall, bei Ruhe im Saal hatte er wohl einen Denkprozess ausgelöst. Gastgeber Mike Münzing lotste den 85-Jährigen durch die zweieinhalbstündige Veranstaltung, der ließ sich zum Vergnügen der Gäste - darunter die Abgeordneten Andreas Glück (MdEP), Rudi Fischer (MdL) und Cindy Holmberg (MdL) - aber selten bremsen. Und nahm sich im Anschluss noch die Zeit, die »Erschütterungen« zu signieren. (GEA)