MÜNSINGEN. Man nannte ihn liebevoll den »Ikarus vom Lautertal«: Gustav Mesmer war in Buttenhausen und den Nachbardörfern bekannt wie ein bunter Hund. Viele Einheimische erinnern sich noch daran, wie der kleine Mann im Anzug mit seinen Flugfahrrädern steile Wege hinunter donnerte und seinem großen Traum nachjagte: »Er wollte durch die Obstwiesen einfach von Dorf zu Dorf fliegen«, erzählt Stefan Hartmaier. Der Grafik-Designer ist in Apfelstetten, einem Nachbardorf von Buttenhausen, aufgewachsen. Schon als Kind hat er Mesmer bewundert und später - 1996, zwei Jahre nach dessen Tod - eine Stiftung gegründet, um das Erbe des Tüftlers zu bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Hartmaier und seine Mitstreiter haben Mesmers Flugräder sowie über tausend dazugehörige Skizzen und Aquarelle, Musikinstrumente und Sprechautomaten zusammengetragen und, soweit nötig und möglich, restauriert. Bereits im Jahr 1989 wurde eine Auswahl aus Mesmers Schaffen in der Münsinger Zehntscheuer gezeigt. Mesmer durfte diese Würdigung noch erleben, als 86-Jähriger war er sogar noch selbst beim Aufbau dabei. 36 Jahre später kehren seine fantasievollen Werke, die in den vergangenen Jahrzehnten in namhaften Galerien und Metropolen wie New York, Paris, Brüssel, Lausanne oder München zu sehen waren, an den Ort zurück, der für Mesmer in den letzten Lebensjahrzehnten Heimat war. »Es war eine lange Reise - umso schöner ist es, wieder hier zu sein«, sagt Stefan Hartmaier, der die Ausstellung im Zehntscheuer-Dachgeschoss über drei Etagen mit langjährigen Weggefährten aufgebaut hat und am heutigen Donnerstag um 19 Uhr eröffnen wird (siehe Info-Box).
Herzstück der Ausstellung sind die Fluggeräte, mit denen Mesmer berühmt geworden ist. »Es gibt im Grunde vier Flugräder«, erklärt Hartmaier, »mit den dazugehörigen Flügeln sind aber rund 40 verschiedene Modelle möglich.« Mesmer hat nach dem Baukastenprinzip gearbeitet, die Teile sind austauschbar und miteinander kompatibel, die Steckvorrichtungen passen überall. Welche Kombinationen Mesmer vorschwebten, lässt sich aus den Skizzen herauslesen, aber auch kleinere Modelle, die er vorher angefertigt hat, geben Aufschluss. Wichtig: »Die Basis ist immer ein Damenrad.« Warum? Damit der Flugradpionier, nachdem das Rad mit allen Teilen ausgestattet war, auch noch ungestreift aufsteigen konnte. Vor Stürzen geschützt hat sich Mesmer mit einem »Brustpanzer« - einer Rüstung, zusammengesetzt aus alten Dingen, und, wie die anderen Erfindungen auch, ein grandioses Beispiel für das, was man heute als »Upcycling« bezeichnet. Gebraucht hat er sie nie, ernsthaft verletzt hat er sich - im Gegensatz zum Original-Ikarus der griechischen Mythologie - trotz waghalsiger Manöver und etlicher Stürze kein einziges Mal.
»Sein Lebenswerk ist inzwischen auch zu unserem geworden«, sagt Hartmaier über sich und die anderen »Mesmerianer«. Zum engen Kreis gehört unter anderen der Reutlinger Künstler Volker Illi. Er hat sich vor allem auch um die Musikinstrumente - ebenso einfache wie fantasievolle Klangkörper aus Karton - verdient gemacht. Sie sind auf der zweiten Ausstellungs-Etage zu sehen, wo auch eine Auswahl von Mesmers Zeichnungen und Bildern zu sehen ist. Als Grafik-Designer ist Hartmaier hingerissen von Mesmers Stil. Die Bilder sind farben- und lebensfroh, sie zeigen Flugrad-Pioniere, die elegant an Schloss Sigmaringen vorbei oder über einen See schweben. Die wenigsten davon sind signiert, sagt Hartmaier. Mesmer hat sich weniger als Künstler, denn als Konstrukteur und Erfinder verstanden. »Gezeichnet hat er auf jedem verfügbaren Stückchen Papier«, erzählt Hartmaier, auf Schokoladenverpackungen genauso wie auf Kalenderblättern oder Druckerpapier mit Lochrand.
Markus Ege, wie Hartmaier in Apfelstetten aufgewachsen, teilt die Kindheitserinnerungen an »Ikarus« und setzt in der aktuellen Ausstellung die Sprechautomaten in Szene: Im dritten Raum, ganz oben unterm Dach, rückt er einen der Apparate Mesmers ins Zentrum. Mesmer hat Membrane, kleine Metallplättchen, kreisförmig angeordnet. Zupft man sie an, erzeugen sie verschiedene Laute: »Auf diese Weise kann man Wörter bilden«, erklärt Stefan Hartmaier. Ob's funktioniert, können Besucher anhand von Nachbauten selbst ausprobieren. (GEA)
Biografie
Gustav Mesmer wird am 16. Januar 1903 als sechstes von zwölf Geschwistern im oberschwäbischen Altshausen geboren. Der Erste Weltkrieg setzt seiner Schulbildung ein jähes Ende, als Zwölfjähriger wird er nach der 5. Klasse aus der Schule entlassen. Er verdient seinen Lebensunterhalt auf Bauernhöfen und tritt später ins Kloster Beuron ein, wo er fast sechs Jahre als Bruder Alexander verbringt. Kurz vor Ablegung des Gelübdes muss er das Kloster verlassen. Mit dem Alltag dort, erzählt er später, sei er nicht zurecht gekommen. Mesmer geht nach Altshausen zurück und beginnt eine Schreinerlehre.
Wohl noch beeinflusst durch seine Klosterzeit, stört er die Konfirmationsfeier in der evangelischen Kirche in Altshausen. Er wird gewaltsam aus der Kirche geführt und elf Tage später in die Heilanstalt Schussenried eingeliefert. Diagnose: »Schizophrenie, langsam fortschreitend, bei einem von Haus aus vielleicht schon schwachsinnigen Menschen.« 1932 ist in seiner Patientenakte erstmals die Rede davon, dass er eine Flugmaschine erfunden habe. Mehrmals flüchtet er aus der Anstalt, immer wieder muss er zurück.
1949 zieht er auf eigenen Wunsch ins Psychiatrische Landeskrankenhaus Weissenau, 1964 wird er ins Landheim Buttenhausen (Bruderhaus-Diakonie) verlegt. Hier verbringt er die letzten und wohl glücklichsten Jahre seines Lebens. Als Korbmacher hat er eine kleine Werkstatt, nebenher kann er ungehindert an seinen Flugobjekten basteln. 1993 kehrt er in seine Heimat Altshausen zurück, wo er Weihnachten 1994, kurz vor seinem 92. Geburtstag, gestorben ist. (GMS/GEA)
Die Ausstellung in Zahlen
Die Ausstellung mit Werken von Gustav Mesmer wird am Donnerstag, 10. April, um 19 Uhr in der Münsinger Zehntscheuer eröffnet. Zu sehen ist sie bis 13. Juli immer donnerstags und freitags von 15 bis 18.30 Uhr, samstags von 10 bis 13 Uhr und sonntags von 11 bis 18 Uhr. Begleitet wird die Ausstellung von einem Programm. Am 18. Mai, 20 Uhr, spielt Franz Xaver Ott vom Melchinger Theater Lindenhof sein Stück »Ein Flugradbauer und sein Leben«, das er auf Grundlage von Mesmers Texten selbst geschrieben hat. Am 31. Mai, 20 Uhr, ist der 45-minütige Film »Der Traum vom Fliegen« zu sehen, den Hartmut Schön 1983 fürs ZDF drehte. Schön ist selbst dabei und wird über den Film hinaus auch erzählen, Ralf Illenberger (Gitarre) macht dazu Musik mit Anleihen aus Folk, Jazz und Klassik. Am 25. Juni, 20 Uhr, hält Elmar Hugger einen Vortrag mit Bildern. Hugger ist ein Neffe Gustav Mesmers. Am 13. Juli startet um 14 Uhr ein Flugwettbewerb - alles, was in der Fantasie fliegen kann, darf teilnehmen. Um 16 Uhr verspricht Volker Illi mit seinem Karton Orchester eine überraschende Konzertperformance.