HAYINGEN-EHESTETTEN. Möhren vom Acker daheim in Ehestetten statt Jakobsmuscheln aus dem Atlantik: Simon Tress hat sich einer so minimalistischen wie konsequenten und kreativen Küchenphilosophie verschrieben. Damit hat er sich im vergangenen Jahr als erster Bio-Spitzenkoch überhaupt seinen ersten Michelin-Stern erkocht. Wenig später hat ihn nun auch die zweite große Feinschmecker-Bibel geadelt: Der Gault Millau ernannte ihn zum »Gastronom des Jahres«. Die Jury lobte seine »radikal regionale, weitgehend vegetarische No-Waste-Bioküche höchster Qualität«.
Der Titel »Gastronom des Jahres« und die Tatsache, dass auch noch ein »Koch des Jahres« gekürt wird, verrät es schon: Es reicht nicht, ein guter Koch zu sein, um diese Auszeichnung zu erhalten. Tress ist »Multigastronom und Unternehmer«, wie der Gault Millau treffend schreibt. Seine Großeltern legten vor 75 Jahren - auch das war damals eine radikale Pionierleistung - den Grundstein für die Bio-Speisekarte im Dorf-Gasthaus. Seine Eltern bauten den Gedanken weiter zum Konzept aus, Simon Tress und seine Brüder Christian, Dominik und Daniel haben einen Betrieb mit mehreren Standbeinen daraus gemacht: Dazu gehört die Suppenmanufaktur, die Aufwärmbares (bio und vegan) für Zuhause herstellt, genauso wie vier Bio-Restaurants. Auch im Catering und in der Betriebsgastronomie ist Tress inzwischen ein Begriff, bei Mercedes-Benz in Stuttgart gibt's Mittagsessen von der Alb in der Kantine. Diesen Bereich wollen die Tress-Brüder ausbauen, weitere Unternehmen, aber auch Kindertagesstätten stehen auf der Interessentenliste.
All diese Bausteine sind in die Gault-Millau-Bewertung eingeflossen. Das Herzstück von Tress' Erfolg aber ist das Restaurant »1950«, in dem er die Familientradition in aller Konsequenz, mit großer Raffinesse und handwerklichem Können auf die Spitze treibt. 2020 wurde es eröffnet, nur vier Jahre später zeichnete es der Guide Michelin als erstes und bisher einziges Demeter- und Bioland-Fine-Dining-Restaurant mit einem Stern aus. »Das '1950' ist somit das erste Bio-Sternerestaurant in Europa«, freut sich Simon Tress über seinen Erfolg.
Das »1950« ist, um im Küchenjargon zu sprechen, die Essenz der Tress-Philosophie. Regionaler, saisonaler und minimalistischer geht es nicht. Tress kocht mit einfachen Zutaten, die keine langen Transportwege haben. Das Gemüse wird überwiegend von einer Bäuerin aus dem Ort angebaut, der Rest wird von Erzeugern im 50-Kilometer-Radius geliefert. Mit einer Ausnahme: Salz, weil's das auf der Alb nicht gibt. Wo die Sterne-Kollegen Austern, Kaviar oder Trüffel von JWD bestellen, lagert, konserviert und verarbeitet Tress Kohlrabi, Kraut und Rote Bete.
»Es geht nicht um geile Teller, sondern um das Gegenteil: den Teller radikal aufzuräumen«
Das Gemüse ist nicht Beilage, sondern Hauptakteur: Im aktuellen Menü des »1950« besteht jeder Gang aus zwei Grundzutaten, die in allen möglichen Spielarten variiert und kombiniert werden. Fleisch ist die Beilage und muss extra dazu geordert werden. Nicht die teure, erlesene Zutat, sondern die überraschende Idee sorgt dafür, dass die Gäste ein unvergessliches Geschmackserlebnis haben. Zwiebel-Crème-Brulée, Bohnen-Eis mit fermentierten Bohnen? Das steht wirklich nur im »1950« auf der Speisekarte, die im Jahr drei Mal komplett erneuert wird.
»Ich habe mir mit diesem Minimalismus selbst ein Konzept auferlegt, bei dem ich mehr denken muss«, sagt er und grenzt sich von der klassischen Gourmetküche ab. Anstatt die Aromen möglichst vieler verschiedener Zutaten auf einen Teller zu packen, isoliert er sie. Damit stellt er die Philosophie der Sterneküche auf den Kopf: »Es geht nicht um geile Teller, sondern um das Gegenteil: den Teller radikal aufzuräumen.« Der pure Geschmack steht im Mittelpunkt. Garen, trocknen, einmachen, fermentieren und kühlen: Tress greift klassische Methoden auf, die sich schon in Großmutters Küche bewährt haben, um Rohstoffe haltbar und schmackhaft zu machen.
Was man aus einer einzelnen Zutat alles rausholen kann, wird auch im neu eingerichteten Gemüselabor ausprobiert, das Simon Tress als Entwicklungsabteilung des »1950« bezeichnet. Hier treibt er den Minimalismus auf die Spitze: »Abfall« gibt es in seiner Küche nicht, nur »Beifall«. Der wird bis ins letzte Molekül weiterverarbeitet - aus Gemüseschalen werden beispielsweise Stäube, mit denen Tress Nudeln oder Brot aromatisiert.
»Durch diese Art des Kochens haben wir eine neue Geschmackswelt erschaffen, in der wir uns selbst auch wohlfühlen«, sagt Tress. »Wir«, das sagt er ganz bewusst: Das, was er erreicht hat, ist keine One-Man-Show - es wäre ohne Familie und Mitarbeiter schlicht nicht möglich. »Ich habe das Glück, ein unfassbares Team zu haben, mit dem ich das alles machen kann«, lobt er seine Leute. Inzwischen arbeiten 90 Festangestellte für das Gesamtunternehmen. »Meine Base ist das '1950'«, sagt Tress, hier kann er sich von Donnerstag bis Sonntag kreativ verwirklichen. Wohl fühlt er sich aber nicht nur in der Küche, sondern durchaus auch im Büro, wie seine Brüder ist er in Akquise und Unternehmensführung aktiv.
Darüber, dass sich sein Mut, etwas anderes zu wagen, auszahlt, freut er sich: »Natürlich bin ich belächelt worden. Aber ich habe es geschafft, mir eine eigene Küchenphilosophie aufzubauen und bin dafür belohnt worden.« Die Auszeichnung des Gault Millau ist für ihn genauso wie der Michelin-Stern »Motivation, noch mehr zu machen, sich nicht auszuruhen. Es fühlt sich an wie ein Runners High«. Lange ausruhen kann sich Simon Tress, auch wenn er wollte, sowieso nicht: Schon Ende März wird der Guide Michelin verkünden, welche Köche er 2025 mit Sternen adelt. Ob für ihn der zweite aufgehen wird? Simon Tress weiß es nicht, »es geht zunächst darum, den ersten Stern zu verteidigen«. (GEA)