KREIS REUTLINGEN/ALB. Immer wieder bricht die junge Frau in ihrer aufgezeichneten Videovernehmung in Tränen aus. Manchmal ist sie deshalb kaum zu verstehen. Sie spricht von »Angst«, von »dem schlimmsten Vorfall«, und schreit fast hinaus: »Warum macht er sowas, ich verstehe das nicht.« Sie wirft ihrem Stiefvater vor, sie über Jahre hinweg sexuell missbraucht zu haben. Wegen dieser schweren Vorwürfe muss sich der 49-jährige Angeklagte aus einer Albgemeinde seit Donnerstag vor der 1. Großen Strafkammer des Tübinger Landgerichts verantworten.
Die heute 19-Jährige ist laut Anklage der Tübinger Staatsanwaltschaft aber mutmaßlich nicht das einzige Opfer gewesen. Der 49-Jährige soll auch ihre ein Jahr ältere Schwester missbraucht haben. In der Zeit zwischen 2014 und 2020. Auch von ihr gibt es eine richterliche Videovernehmung, die das Gericht am Donnerstag abspielte. Und auch hier sieht man immer wieder Tränen bei der jungen Frau, als sie von den Übergriffen berichtet.
Mädchen waren noch minderjährig
Oberstaatsanwältin Rotraud Hölscher hat weit über 100 solcher sexuellen Übergriffe zusammengetragen, die der Angeklagte begangen haben soll. Sie reichen von leichtem Streicheln ober- und unterhalb der Kleidung der Mädchen bis zu heftigem sexuellem Missbrauch. Dies alles soll im gemeinsamen Wohnhaus auf der Alb, bei Autofahrten und bei Urlaubsausflügen auf einem Campingplatz in Süddeutschland geschehen sein – als die Mädchen noch minderjährig waren.
Vor Gericht hat der 49-Jährige die massiven Vorwürfe bestritten. »Ich habe immer versucht, ein guter Vater zu sein, die Mädchen zu unterstützen, Zuneigung zu zeigen«, meinte er. Die Aussagen der beiden jungen Frauen entsprächen nicht der Wahrheit, »das bedrückt mich sehr«. Die vielen angeklagten sexuellen Übergriffe seien auch »zeitlich nicht vorstellbar«, weil er die ganze Zeit berufstätig gewesen sei. Sicher habe man miteinander »gebubelt«, aber »zusammen unter einer Decke im Wohnwagen - das gab es nicht«.
Gutachterin erstellt Glaubhaftigkeitsgutachten
Allerdings hat der Angeklagte derzeit schlechte Karten, was seine Verurteilung angeht. Die Tübinger Jugendpsychiaterin Dr. Marianne Clauss hat mit den beiden jungen Frauen gesprochen. Sie soll ein Glaubhaftigkeitsgutachten erstellen, soll dem Gericht Hilfestellung leisten bei der Frage: Ist das, was die beiden Frauen sagen, erlebnisbasiert?
Der Vorsitzende Richter Armin Ernst erklärte, dass ein vorläufiges Gutachten von Clauss bereits vorliegt. Und dies besagt offensichtlich, dass die jungen Frauen Erlebtes berichtet haben. Dies teilte er auch dem Angeklagten mit, was den 49-Jährigen aber nicht zu einer anderen Aussage veranlasste.
Im Gerichtssaal
Gericht: Armin Ernst (vorsitzender Richter), Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Dr. Petra Krüger, Margarete Wiedenmann. Staatsanwaltschaft: Rotraud Hölscher. Verteidiger: Steffen Hammer. Nebenklagevertreterinnen: Safak Ott, Katrin Lingel. Gutachterin: Dr. Marianne Clauss.
Warum sollten die jungen Frauen solch schwerwiegende Vorwürfe erheben? Diese Frage stellte das Gericht wie auch die Jugendpsychiaterin dem Angeklagten. Eine richtige Erklärung hatte er dafür nicht parat. Er sprach von Schwierigkeiten im Familienleben, von Streitigkeiten zwischen ihm und seiner Frau, die die beiden Mädchen mit in die Ehe gebracht hat. Auch knirschte es offenbar immer wieder einmal im Verhältnis der Mutter mit ihren Töchtern.
Bekannt ist jedenfalls, dass es vom Jugendamt initiierte Familientherapien gab. Auch soll eine der Stieftöchter bei einer Auseinandersetzung einmal zu dem 49-Jährigen, wie er selbst vor Gericht erklärte, gesagt haben: »Dich mache ich fertig.«
Am nächsten Verhandlungstag in der kommenden Woche sollen die beiden jungen Frauen live vor Gericht gehört werden. Dies wird allerdings aller Voraussicht nach unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen. Einen solchen Antrag wollen jedenfalls die beiden Nebenklagevertreterinnen Safak Ott und Katrin Lingel stellen. (GEA)