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Die Burgen des Mittelalters in der Region erscheinen in einem anderen Licht

Neue Methoden, neue Erkenntnisse: Michael Kienzle aus Tübingen forscht zu Burgen im Lauter- und Ermstal. Das hat er jetzt neu herausgefunden.

Bergfriede wie der der Burg Hohenhundersingen hatten vor allem repräsentative Funktion. FOTO: STEINHÄUSSER
Bergfriede wie der der Burg Hohenhundersingen hatten vor allem repräsentative Funktion. Foto: Steinhäuser
Bergfriede wie der der Burg Hohenhundersingen hatten vor allem repräsentative Funktion.
Foto: Steinhäuser

MÜNSINGEN. Eine von viel Grün überwucherte Senke, irgendwo im Wald bei Dapfen. Die Spuren, denen der Historiker Michael Kienzle folgt, sind oft ganz unspektakulär. Zumindest dann, wenn man nur am Boden bleibt. Betrachtet man die Stelle von oben mithilfe moderner Laser-Technik, bietet sich ein ganz anderes, erstaunliches Bild. Blendet man den Bewuchs und alles andere, was stört, aus, ist klar zu sehen: Das Gelände ist terrassenförmig angelegt. Und auch das »Loch« ist nicht das einzige, rundherum sind etliche weitere Vertiefungen zu sehen. Nein, dieses Profil hat nicht die Natur geschaffen, es waren eindeutig Menschen, die hier vor etwa 850 Jahren eine Burg errichtet haben.

Die Löcher, sagt Kienzle, sind Unterkellerungen größerer Gebäude. Der Turmstumpf, das einzige sichtbare Überbleibsel der Burg Blankenstein, war also nur ein kleiner Teil einer größeren Burganlage, schlussfolgert Kienzle. Aus den Aufnahmen, aber auch aus Geländefunden und historischen Dokumenten kann er deren Bauplan rekonstruieren und damit Rückschlüsse ziehen, welche Funktion die Burg Blankenstein einst erfüllte.

Kienzle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters an der Universität in Tübingen und hat seine Doktorarbeit über Burgenbau und Adel auf der Mittleren Alb geschrieben. In einem Forschungsbereich also, der nicht nur viel hergibt, sondern auch von großem öffentlichen Interesse ist: 1 400 Seiten sind’s geworden, die Dissertation wird derzeit geprüft, danach soll sie nicht in wissenschaftlichen Bibliotheken verschwinden, sondern in größerer Auflage gedruckt und damit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Der Bedarf ist da: Zum stadtgeschichtlichen Abend, den Geschichtsverein und Stadtarchiv Münsingen organisiert hatten, kamen rund 100 Zuhörer, um Kienzles Ausführungen zu hören.

»Aus dem Steinbruch wurde später der Burggraben«

Der junge Wissenschaftler gab Einblicke in die moderne Burgenforschung. Diese stützt sich nicht mehr nur, wie viele Forscher-Generationen vorher, auf die oft nur spärlich vorhandenen schriftlichen Quellen und archäologischen Funde. Technische Möglichkeiten wie das Airborne Laser Scanning erweitern das Instrumentarium erheblich. Vom Flugzeug aus werden, erklärt Kienzle, hochauflösende Laserstrahlen ausgesandt. Aus den Daten werden dreidimensionale Geländemodelle errechnet – wie das vom Waldstück bei Dapfen, das eindeutig zeigt, welche Dimensionen die Burg Blankenstein einst gehabt haben muss.

Diese »vergessenen Burgen«, wie sie Kienzle nennt, komplettieren das Bild, sie sind die fehlenden Puzzleteile: Außer den Ruinen, die sich im Lautertal weithin sichtbar auf hoch gelegenen Felsplateaus aneinanderreihen, gab es viele weitere Adelssitze, deren Überreste heute irgendwo im Wald versteckt liegen oder komplett verschwunden sind. »Jedes zweite Dorf auf der Alb hatte wohl einen Adelssitz, eine sogenannte Orts- oder Dorfburg«, sagt Kienzle. Sichere Belege gibt es beispielsweise für Gomadingen, Steingebronn und Buttenhausen, wo einst sogar zwei Burgen gestanden haben müssen.

Die Burgen im Lautertal fielen im 13.Jahrhundert an die Württemberger. Weiter flussabwärts verteidigten die Habsburger ihr Gebie
Die Burgen im Lautertal fielen im 13. Jahrhundert an die Württemberger. Weiter flussabwärts verteidigten die Habsburger ihr Gebiet, zu dem auch Bichishausen zählte. Foto: Marion Schrade
Die Burgen im Lautertal fielen im 13. Jahrhundert an die Württemberger. Weiter flussabwärts verteidigten die Habsburger ihr Gebiet, zu dem auch Bichishausen zählte.
Foto: Marion Schrade

Zeichnet man die verschwundenen Burgen auf einer Karte ein, lassen sich daraus wichtige Erkenntnisse gewinnen, warum die Bauherren welchen Standort gewählt haben und welche Sichtbeziehungen unter den Burgen bestanden. Von dem Gedanken, dass sie alle zur gleichen Zeit gebaut und bewohnt wurden, müsse man sich allerdings verabschieden, sagt Kienzle: »Manche wurden erst gebaut, als andere schon aufgegeben waren.« Bereits im frühen 12. Jahrhundert errichtet und bald wieder verfallen ist beispielsweise die Burg Kapf bei Weiler im Lautertal: »Sie war nicht aus Stein, sondern vor allem aus Holz gebaut«, beschreibt Kienzle eine frühe Form des Burgenbaus, die vor allem beim niederen Adel lange verbreitet war. Eine gute Rekonstruktion einer solchen Turmhügelburg, die aus Holzbalken auf einem künstlichen Hügel mit Graben errichtet wurde, ist die Bachritterburg im oberschwäbischen Kanzach.

Deutlich später, in der zweiten Hälfte des 12. oder gar im 13. Jahrhunderts gebaut wurden die Burgen Hohenhundersingen und Hohengundelfingen. Darauf lassen auch die mächtigen Bergfriede schließen, die, so Kienzle, »wohl vor allem symbolische und repräsentative Funktion hatten«. Ganz anders die Burg Derneck: Sie entstand im 14. Jahrhundert – ein typisches Merkmal des inzwischen völlig verändereten Baustils ist die Schildmauer, die den Bergfried ersetzt. Nicht nur der Baustil, sondern auch das Baumaterial liefert interessante Hinweise. »Normalerweise wurde auf der Alb Kalkstein verwendet, der vor Ort gebrochen wurde. Aus der Materialgrube, dem Steinbruch, wurde später eine Verteidigungsanlage: der Burggraben.« Auf dem Hohenwittlingen findet sich eine auffällige Abweichung: Hier wurden teilweise Sandsteinbuckelquader verbaut. »Den ortsfremden Stein hierher zu transportieren, kostete viel Geld und Mühe.« Letztere haben die Bauherren, so Kienzle, offenbar aus Prestigegründen auf sich genommen.

Nicht nur im Lauter-, sondern auch im Ermstal gab es im 12. und und 13. Jahrhundert »einen massiven Anstieg der Burgendichte«, berichtet Kienzle. Es war die Zeit der Grafen von Urach, die ihren Herrschaftsbereich offenbar ausbauten und sicherten, indem sie vorgwiegend dem niederen Adel angehörende Dienstleute an strategisch wichtigen Positionen ansiedelten. Neun Burgen gab es allein zwischen Seeburg und Urach, im 14. Jahrhundert allerdings war die Hälfte davon bereits wieder verschwunden. Wissenschaftler, so Kienzle, bezeichnen dieses Phänomen als »Burgendämmerung«.

»Der arme Ritter von nebenan war selbst mit dem Pflug auf dem Acker«

Warum? Inzwischen hatten die Württemberger die Macht und damit sukzessive auch die Burgen übernommen. Belege dafür gibt es etliche, aus der Mitte des 13. Jahrhunderts sind etliche Urkunden über Burgenverkäufe an die Grafen von Württemberg erhalten. Weiter bewohnt, bewirtschaftet und erhalten wurden offenbar nur die wichtigsten, während die übrigen verfielen. Die Expansionspolitik der Württemberger bezeichnet Kienzle als aggressiv: Vom Ermstal aus breiteten sie ihr Territorium auf die Alb aus, verdrängten die Ortsadeligen und übernahmen dabei auch einige Burgen im Lautertal – allerdings nur bis Hundersingen. Denn weiter flussabwärts kamen sie nicht: Dort verteidigten die Habsburger ihr Territorium erfolgreich, die Burgen blieben in ihrem Besitz.

Kaum Farbe, viel Form: Im Winter aus der Luft betrachtet ist die Anlage der Burg Hohengundelfingen besonders deutlich zu erkenne
Kaum Farbe, viel Form: Im Winter aus der Luft betrachtet ist die Anlage der Burg Hohengundelfingen besonders deutlich zu erkennen. Foto: Geiselhart
Kaum Farbe, viel Form: Im Winter aus der Luft betrachtet ist die Anlage der Burg Hohengundelfingen besonders deutlich zu erkennen.
Foto: Geiselhart

Welche Burg wie lange genutzt wurde, hing nicht nur mit den Eigentümern und ihren Machtinteressen, sondern auch eng mit ihren jeweiligen Funktionen zusammen: Die militärische Nutzung spielte eine wichtige Rolle, aber auch Verkehrswege und ökonomische Strukturen waren entscheidende Kriterien. Etliche tief eingeschnittene Hohlwege – zum Beispiel in Hundersingen oberhalb des Wegs zwischen Friedhof und Burgruine – sind nicht nur mithilfe der Laser-Messtechnik, sondern auch mit bloßem Auge in der Landschaft deutlich zu erkennen und werden teilweise bis heute genutzt.

Den Herren der Burg Blankenstein bei Dapfen beispielweise gelang es, ihren Besitz nachweislich bis ins heutige Oberstetten auszudehnen: Ihnen gehörten Wälder, Ackerflächen, Siedlungen – und Gewässer, die eine wichtige Rolle spielten. Unterhalb von Schloss Grafeneck gab es einen künstlich angelegten Fischsee, und zu den Burgen im Lautertal gehörte typischerweise auch eine Mühle am burgeigenen Fischwasser, wie sie etwa für Bichishausen nachgewiesen ist. Auf dem Terrain der Schülzburg bei Anhausen lag eine große Schafweide samt Schafhaus. Und auf vielen Burgen gab es große Stallungen, in denen nicht nur Pferde, sondern vor allem auch Rinder gehalten wurden: »Sie galten offenbar als Statussym-bole.«

Dem Klischee, dass die Herrschaften nur auf der faulen Haut lagen und andere für sich arbeiten ließen, widerspricht der Wissenschaftler zumindest in Teilen: Wahr ist, dass die Bauern Abgaben bringen mussten. Wahr ist aber auch, dass es neben den einflussreichen, regierenden Familien, wie den Urachern oder später den Württembergern, viele andere gab, die in deren Diensten die weniger bedeutenden Burgen bewohnten – und die dazugehörigen Ländereien bewirtschafteten. »Der arme Ritter von nebenan war durchaus auch selbst mit dem Pflug auf dem Feld unterwegs, dafür gibt es schriftliche Quellen«, weiß Kienzle. (GEA)