MÜNSINGEN. »Sie haben mich heute Abend stolz gemacht.« Dieses Kompliment sprach Bürgermeister Mike Münzing den Zuhörern in der Münsinger Alenberghalle nach fast zweieinhalb Stunden Podiumsgespräch aus. Rund 1.000 Menschen waren gekommen, um zu hören, was Politiker und Vertreter des Gesundheitswesens zur geplanten Schließung der Notfallpraxis in Münsingen zu sagen haben. Um was geht’s und für welche Position stehen die einzelnen Redner auf der Bühne?
Der Beschluss. Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) hat das Aus der hausärztlichen Bereitschaftspraxis in Münsingen zum 30. September verkündet. Landesweit sollen 17 weitere Notfallpraxen geschlossen werden. Die Begründung: Die niedergelassenen Hausärzte, die die Wochenenddienste in der Notfallpraxis zusätzlich zu ihrer Arbeit in der Praxis übernehmen, werden älter und weniger. Man wolle sie entlasten, indem man Notfallpraxen weiter zentralisiere, so die KV. Für Münsingen und die Alb heißt das: Wer Hilfe braucht, muss künftig nach Reutlingen oder Ehingen – die Notfallpraxen dort sind nicht von der Schließung betroffen.

Der Rebell. Moderator Jürgen Klotz nennt ihn einen »Asterix, der vorne draus läuft«: Dr. Eberhard Rapp, Allgemeinmediziner im Hausarztzentrum, zuständig für die Verteilung der Notdienste und Vertreter der SPD im Gemeinderat, ist zur Galionsfigur des Widerstands gegen die Schließung geworden. Er steht an der Spitze der Bürgerinitiative (BI) Albklinik, die die Veranstaltung organisiert. Er sieht nur Nachteile in der »Reform«. »Kann man es jemandem zumuten, mit Fieber eine Dreiviertelstunde nach Reutlingen zu fahren?« Die rhetorische Frage beantwortet er selbst. Die logische Folge werde sein, dass »die Inanspruchnahme von Rettungsdienst und Notaufnahme dann eben enorm hochgeht«. Beide sind aber nicht dafür da, die hausärztliche Versorgung an Wochenenden zu übernehmen, sondern für lebensbedrohliche Notfälle. In der drohenden Überlastung sieht Rapp deshalb eine Gefahr für Patienten.
Überlastete Ärzte. Das Argument der KV, dass die Notdienste die Hausärzte überfordern, lässt Rapp nicht gelten. »Wir machen vier bis sechs Dienste im Jahr«, berichtet er aus der Münsinger Notfallpraxis. Früher, als noch jeder einzelne Hausarzt seine Praxis im Wechsel für Wochenenddienste öffnen musste, waren es auf dem Land weit mehr, in der Stadt viel weniger – bis zu 40 für einen Arzt in Sonnenbühl, aber nur zwei oder drei für den Kollegen in Reutlingen, wo es viele Praxen gibt. Diese Ungleichverteilung wurde mit der Zentralisierung der Notfallpraxen vor zehn Jahren beendet, so Rapp. Die alte Reform war also gut, die neue ist aus Rapps Sicht ein Fehler: »Sie geht zu Lasten der Menschen im Ländlichen Raum und stellt deren Recht auf medizinische Versorgung infrage.«
Der Sonderfall Münsingen. Was unterscheidet die Notfallpraxis auf der Alb von den anderen 17, die im Land geschlossen werden sollen? »Die Ärzte hier vor Ort sind bereit, weiterhin ihre Leistung in der Notfallpraxis zu erbringen«, stellt Bürgermeister Mike Münzing klar. Die Ärzte sind offenbar nicht nur bereitwillig, sondern personell auch noch gut aufgestellt – zumal es, so Rapp, zusätzlich junge Ärzte und Ruheständler gebe, die gerne Dienste übernehmen. Zahlen hat Dr. Michael Preusch, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU: Während es in Metzingen und Reutlingen schon jetzt eine Unterdeckung in der Versorgung gebe, weil Hausarztsitze unbesetzt bleiben, sei Münsingen mit einem Deckungsgrad von 114 Prozent »eine Insel der Glückseligen – noch«, mahnt er, dass sich das künftig auch ändern könnte. Dass man dafür, dass es weder an Personal noch an der Bereitschaft fehle, »auch noch bestraft und beschnitten anstatt zum Modell gemacht wird«, macht Münzing sauer. »Es ist eine kolossale Fehleinschätzung der KV, dass ein landesweit einheitliches System möglich ist.«
Der Notfallmediziner. Dr. Stefan Kühner, Chefarzt für Notfallmedizin an den Reutlinger Kreiskliniken, hat eine klare Meinung: »Die Schließung bedeutet, dass Menschen der direkte Zugang zur Gesundheitsversorgung vor Ort verwehrt wird. Das finde ich wirklich desaströs.« Paradox und perfide aus seiner Sicht: »Eigentlich dürfen wir Patienten, die in die Notfallpraxis gehören, gar nicht nicht in der Notaufnahme behandeln. Das ist das, was uns die KV auferlegt.« Streng daran halten werden er und seine Kollegen sich wohl nicht, lässt er durchblicken: »Das kann man doch niemanden antun, zu sagen: Sie fahren jetzt mit den Öffentlichen runter nach Reutlingen.«
Der Bürgermeister. Mike Münzing. wirft der KV vor, die politischen Leitplanken des Landesentwicklungsplans zu ignorieren: »Darin ist die Aufgabe definiert, für gleichwertige Lebensverhältnisse und bedarfsgerechte Infrastruktureinrichtungen zu sorgen.« Neben einer individuellen Lösung für den Sonderfall Münsingen wünscht er sich im Transformationsprozess des Gesundheitssystems auch eine grundsätzliche Aufwertung von Berufsgruppen: »Es gibt nicht nur Ärzte, und es gibt Länder, in denen medizinische Fachkräfte ein anderes Ansehen genießen und nicht nur dem Chefarzt auf Visite hinterherspringen dürfen. Auch wir müssen diese Kräfte mehr wertschätzen und punktgenau einsetzen.«
Der Landrat. Dr. Ulrich Fiedler hat »keinerlei Verständnis für die Schwächung des Ländlichen Raums«, die mit den KV-Plänen einhergehe. Gleichwohl sieht er die Problematik: »41 Prozent der Ärzte im Landkreis sind älter als 60«, nicht für alle gibt es Nachfolger. Der Telemedizin, auf die die KV immer wieder als Lösung verweist, will sich Fiedler nicht grundsätzlich verschließen. Weil er digitalen Lösungen und auch den Menschen, die sie nutzen sollen – anders als viele andere im Raum, die ihrer Skepsis Ausdruck verleihen –, einiges zutraut. Er verweist auf ein Pilotprojekt, das Ärzte der Kreiskliniken mit Patienten in Reutlinger Altersheimen zu digitalen Sprechstunden vernetzt. Mit etwas Hilfe der Pflegenden gelinge das in 95 Prozent der Fälle, oft sogar bei Demenzpatienten, so Fiedler. Auf das »Münsinger Modell« angesprochen, das als Begriff seit der Schließungsdebatte eher vage durch den Raum geistert, wird er konkreter: »Es gibt die Idee, entsprechende telemedizinische Infrastrukturen an der Albklinik einzurichten. Damit könnten wir zumindest einen Baustein liefern.«
Die Opposition. Als Fraktionsvorsitzender der SPD im Stuttgarter Landtag vertritt Andreas Stoch die Oppositionsrolle mit Vehemenz: »Was uns nervt, ist, dass sich der Minister nicht gegen die Pläne wendet«, schießt Stoch in Richtung Manne Lucha. »Das ist eine Verschlechterung für die Menschen in diesem Land, die er nicht zulassen darf.« Die KV arbeite nicht im luftleeren Raum, sondern im staatlichen Auftrag, »und das sollte sie auch wissen. Die KV ist da, um Menschen zu versorgen, und das muss Lucha endlich auch kapieren«, wettert er.
Die Union. Dr. Michael Preusch, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag, ist selbst Arzt und in Teilzeit an einer Klinik tätig. Er kritisiert die Kommunikation der KV, die die Beteiligten vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Er sagt klar: »Die Versorgungsstruktur wird sich ändern.« Aber: »Bevor man etwas abbaut, muss ich etwas anderes aufbauen und Alternativen etablieren.« Dass es zu wenige Ärzte gibt, dass die Zugangsvoraussetzungen niederschwelliger und die Studienplätze mehr werden müssen: Diese Ansicht teilt er mit allen auf dem Podium. Der Ausbau gehe allerdings nicht von heute auf morgen, weil die Lehrenden auch diejenigen seien, die die Patienten in Kliniken versorgen.
Die Grüne. Cindy Holmberg hat an diesem Abend den schwersten Stand. Zu erwarten, mindestens aber wünschenswert wäre gewesen, dass Minister Lucha seiner Partei-Kollegin eine Botschaft mit auf den Weg gegeben hätte. Hat er aber nicht, und Holmberg bleibt wenig mehr, als zu versprechen, sich für eine Münsinger Sonderlösung einzusetzen: »Es gibt den Fachkräftemangel, aber nicht hier. Hier lohnt es sich, die Strukturen so aufrechtzuerhalten. Das will ich in Stuttgart klar machen.« Wie Fiedler ist sie offen dafür, weitere Angebote in die Versorgung zu integrieren. Andere Länder – Dänemark, aber auch Estland – seien in der Telemedizin schon viel weiter. »Wenn man die Leute nicht damit allein lässt, sondern schult, dann geht das.«
Der Liberale. »Die KV weiß seit gut zehn Jahren, das Ärzte fehlen«, sagt Rudi Fischer. Der FDP-Abgeordnete hat Verständnis für das Grundproblem, das mit dem demografischen Wandel einhergeht – aber nicht dafür, dass es aus seiner Sicht zu lange sehenden Auges verschleppt wurde. Fischer rügt die KV dafür, einen Beschluss gefasst zu haben, ohne mit den Betroffenen zu sprechen: »So geht man mit den Menschen nicht um.« Der Ländliche Raum sei das »Rückgrat der Gesellschaft«: »Diese Gefüge, diesen Zusammenhalt, spüre ich hier und heute.«
Die Betroffenen. »Sie sind ganz schön viele«, sagt Moderator Jürgen Klotz. »Das ist ein Statement.« Geschätzte tausend Menschen sind in der Halle, um ein Zeichen zu setzen. Die Vertreter der Bürgerinitiative in ihren türkisblauen T-Shirts, Herzsportgruppen, politisch Engagierte, Patienten. Gekommen sind sie aus Gemeinden von der ganzen Alb. Warum? »Weil es nicht um die Notfallpraxis der Stadt Münsingen geht, sondern um die der ganzen Region«, sagt Bürgermeister Mike Münzing. »Ich hoffe, das wird auch meinen Kollegen bewusst.« Irritierend und beschämend finden es etliche Bürger, dass außer Ulrike Holzbrecher aus Hayingen keine Bürgermeisterin, kein Bürgermeister einer Alb-Gemeinde in der Halle ist. Wie sehr die Menschen das Thema beschäftigt, macht Ralf Hinz von der BI sichtbar: Über 22.000 Unterschriften gegen die Schließung hat die BI gesammelt, nicht nur Menschen von der Alb, sondern auch aus dem Ermstal und dem Reutlinger Stadtgebiet haben unterzeichnet. Ein dicker Packen Papier, der nach Stuttgart soll. An ihrem Wunsch, ihn direkt an den Ministerpräsidenten zu übergeben, halten Rapp und seine Mitstreiter hartnäckig fest.
Das leere Namensschild. Aufgestellt für die, die hätten da sein können, ist es ein starkes Symbol: Der Platz am Tisch auf dem Podium hinter dem grünen Schild blieb leer. Darauf hätten mehrere Namen stehen können – Doris Reinhardt als stellvertretende Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) war ebenso eingeladen wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Gesundheitsminister Manne Lucha. Alle ließen sich entschuldigen. Die KV hat angekündigt, im Vorfeld der Schließung eine eigene Bürgerinfo-Veranstaltung anzubieten. Die Stimmung dürfte frostig werden.
Die Aussichten auf Erfolg. Sind eher mau. Daraus mache er kein Geheimnis, wenn er gefragt werde, sagt Mike Münzing. »Wenn die KV nicht mitziehen will, können wir die Schließung nicht aufhalten.« Die letzte Hoffnung: Die KV erkennt, dass Münsingen ein Sonderfall ist und deshalb auch anders behandelt werden muss. Ob der Landkreis im Zweifel den juristischen Weg einer Klage in Erwägung ziehe? Die Publikumsfrage gilt Landrat Fiedler, der wissen lässt: »Der Landkreistag befasst sich damit, wir werden beraten, wie wir gegebenenfalls gemeinsam agieren können.« (GEA)