MÜNSINGEN. Der Krieg war am 24. April in Münsingen mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen so gut wie zu Ende. Die Folgen des Krieges waren aber noch lange spürbar, auf ganz unterschiedliche Weise. Meggie Beck wurde 1947 als Maria Marlene Poll in Münsingen geboren. Ihre Mutter Helene Poll war Witwe, der Vater im Krieg gefallen. Die Familie stammt aus dem Ruhrgebiet, wurde dort ausgebombt und auf der Alb untergebracht. Dass ihr Vater ein französischer Soldat war, nach Kriegsende in Münsingen stationiert, fand sie erst Jahrzehnte später heraus.
An Münsingen hat Meggie Beck viele schöne Erinnerungen. Obwohl Kreisstadt, sei Münsingen sehr bäuerlich gewesen, »mit Misthaufen vorm Haus und Kettenhunden«, erinnert sie sich. »Wir waren den ganzen Tag draußen, haben viel unternommen«, in der Stadt vor allem aber draußen auf den Feldern und Wiesen. Sie ging in Münsingen auf die Volksschule, erst im alten Gebäude in der Bismarckstraße, dann auf die Schillerschule.
»Münsingen war sehr bäuerlich, mit Misthaufen vorm Haus und Kettenhunden«
Ihr leiblicher Vater wurde zu Hause nie erwähnt, der »Papa« war immer der gefallene Ehemann der Mutter und Vater der Halbschwester. Mit neun Jahren fing Meggie an zu rechnen. Wenn der »Papa« 1943 an der Ostfront gefallen war und sie 1947 geboren wurde, fehlte etwas Wichtiges in der Familiengeschichte. Die Mutter schwieg, die Stadt nicht immer. Schräge Blicke, Geflüster auf der Straße, manchmal hörte sie: »Des isch a Franzesle«. Manche Kinder durfte sie nicht besuchen. »Irgendwas stimmte nicht«, erzählt Meggie Beck. Mit den Altersgenossen war sie ständig unterwegs, eine beste Freundin habe sie aber nicht gehabt. Dafür viel gelesen.
Die Familie zog 1960 weg von der Alb, 1962 starb die Mutter, ohne irgendetwas über Meggies Vater erzählt zu haben. Im Nachlass fanden Meggie und ihre Schwester Hermine aber ein Bild eines Mannes in französischer Uniform. »Das Foto war nicht in einem Album, es lag zwischen Urkunden und Dokumenten. Ich bin deswegen sicher, dass meine Mutter noch mit mir über meinen Vater reden wollte.« Ihre neun Jahre ältere Schwester erinnerte sich an den André, der in ihrer Wohnung einquartiert war. Er habe sich liebevoll um Meggie gekümmert, »du warst immer auf seinem Arm«. Er sei verheiratet gewesen und habe in Frankreich ein Kind gehabt, erinnerte sich die Schwester.
»Er hat sich liebevoll um dich gekümmert, du warst immer auf seinem Arm«
1949 wurde André nach Frankreich zurückbeordert, niemand in Deutschland hat wieder von ihm gehört. Das schmerzt Meggie Beck, sie verurteilt den Vater aber nicht, hätte ihn nur gern kennengelernt. Historiker schätzen die Zahl der Kinder, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt aus Beziehungen zwischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen hervorgingen, auf 200.000 bis 400.000. Sehr lang war das ein gesellschaftliches Tabu, jemand hatte sich mit dem Feind eingelassen.
Mit der deutsch-französischen Freundschaft war es noch nicht weit her, die französische Militärregierung suchte Kinder aus Mischbeziehungen, um sie zu »repatriieren« und französischen Pflegeeltern im Mutterland anzuvertrauen. Den Soldaten waren Beziehungen verboten, sie mussten selbst mit Repressalien rechnen. Es gab - neben möglicherweise Scham - auch ganz handfeste Gründe, dass ihre Mutter Meggie über ihre Abstammung im Dunkeln hielt und ihr Vater den Kontakt abbrach.
Zu Münsingen hält Beck nach wie vor Kontakt, besucht die Klassentreffen der Ehemaligen der Schillerschule. 2013 war sie wieder einmal zu Besuch - »ich sehe mich als Schwabe« - , besuchte die Hengstparade in Marbach und unternahm einen Spaziergang durch Münsingen. Hier wurde sie wiedererkannt, von einer älteren Dame, der ein Bein fehlte, die »aber noch hell im Kopf« war - Maria Junger. Die Münsingerin erinnerte sich an Meggie und auch an André: »Sie sehen genauso aus wie ihr Vater.« Sie besaß sogar einen Brief von Andrés Ehefrau an ihren Mann im fernen Deutschland. So hat Meggie, 64 Jahre nachdem ihr Vater nach Frankreich zurückgegangen war, seinen vollständigen Namen erfahren: André Guenot. Die Adresse auf dem Brief führte zu nichts. Aber Meggie hat sich später Coeurs sans Frontières angeschlossen, einer deutsch-französischen Organisation, die sich dem Schicksal der Kriegs- und Besatzungskinder annimmt. Beck ist dort mittlerweile im Vorstand.
»André sei ein Bonvivant gewesen, dass muss ich von ihm geerbt haben«
Über Coeurs sans Frontières hat Meggie Beck ihre Halbschwester in der Bourgogne kennengelernt und das Heimatdorf Andrés. Ihre Ähnlichkeit mit ihrem Vater fiel auf: »Das ist die Tochter von André.« - »Sie sagen, er sei ein Bonvivant gewesen, ein Mensch, der gern gut lebt, isst, genießt«, sagt Beck, »das muss ich von ihm geerbt haben«.
Meggie Beck hat ihren Weg gemacht. Hat mit 14 Jahren eine Lehre zur Schaufenstergestalterin und Dekorateurin absolviert, stand auf eigenen Füßen, in den 1960er- und 70er-Jahren nicht selbstverständlich. »Ich habe mich nicht unter den Teppich kehren lassen.«
In den »Schattenschicksalen« hat Autorin Monika Dittombée exemplarisch die Schicksale von sechs »verbotenen Kindern« beschrieben. Sie geht aber auch auf den Stand der psychologischen Forschung ein, erklärt die Folgen der fehlenden Väter für die Kinder - bis ins Erwachsenenalter. (GEA)
Schattenschicksale
»Schattenschicksale - Lebensweg der Kriegskinder aus verbotenen Beziehungen - Geschichten des Überlebens« von Monika Dittombée ist bei Kösel erschienen. ISBN 978-3-466-37354-3. Das Buch kostet 22 Euro. (GEA)



