ST. JOHANN-WÜRTINGEN. Ein herausforderndes Jahr, in dem unzählige Bauern auf die Straße gingen und für bessere Arbeitsbedingungen demonstrierten, liegt hinter den Landwirten im Kreisbauernverband Reutlingen. Jetzt gilt es für sie, den Blick in die Zukunft zu richten, wobei Agrarmärkte, die europäische und nationale Agrarpolitik und die Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft nach wie vor zahlreiche Herausforderungen bieten. Der Vorsitzende Gebhard Aierstock hofft auf eine neue Bundesregierung und somit auf mehr Stabilität: »Damit sich dieses Land wirtschaftlich, sozial, ökologisch und demokratisch zum Besseren verändert.« Was es dringend braucht, ist laut Aierstock eine Wettbewerbsgleichheit in Europa, »ohne nationale Alleingänge«. Und endlich einen wirksamen Bürokratieabbau für landwirtschaftliche Betriebe sowie Planungssicherheit.
Ernährungssicherheit – insbesondere in diesen unsicheren Zeiten – sei nur möglich mit den richtigen politischen Rahmenbedingungen: »Für eine starke und wettbewerbsfähige heimische Landwirtschaft.« Die gesamte Wirtschaft sei unter Druck und ebenso wie die Demokratie gefährdet durch fehlendes Vertrauen in den Staat. Kernanliegen der Landwirtschaft sei es, die Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Binnenmarkt wieder herzustellen durch ein umfassendes Bürokratieentlastungs- und Wettbewerbsstärkungs-Programm mitsamt einer tragfähigen Lösung beim Agrardiesel.
Stärkung der ländlichen Räume
»Weitere Forderungen umfassen ein Gesamtkonzept für die Weiterentwicklung der deutschen Tierhaltung und die Stärkung der ländlichen Räume durch unternehmerische Freiräume und flächendeckende leistungsstarke Infrastruktur«, so Aierstock. Landwirte bräuchten darüber hinaus Lösungen für ihre bestehenden Biogasanlagen, damit diese weiter betrieben werden können, sowie klare Signale: »Es muss sich im EU-Haushalt in harter Währung widerspiegeln, dass die EU zu einer innovativen, wettbewerbsfähigen und resilienten Landwirtschaft finanziell und strukturell beitragen will.« Nationale Versorgungssicherheit, so betonte Aierstock, müsse zentrales politisches Thema sein. Von großer Bedeutung für die Landwirte sei der erfolgreiche Abschluss des Strategiedialogs in Baden-Württemberg und insbesondere die Selbstverpflichtungserklärungen des Lebensmitteleinzelhandels gewesen.
Für Aierstock zählen auch Klimaschutz, Biodiversität, Digitalisierung, KI, Öffentlichkeitsarbeit, Medienkompetenz sowie die Entwicklung von angepassten Lernprogrammen und Inhalten zu den Zukunftsthemen der Landwirtschaft. Er verwies auf die Chancen durch die Erweiterung des Biosphärengebiets und auf Fördermöglichkeiten, etwa durch die Teilnahme an Leader-Projekten.
»Starke Gemeinschaft in einem starken Verband«
Mehr als 1.300 Mitglieder gehören dem Kreisbauernverband Reutlingen an. Für Geschäftsführer Thomas Pfeifle eine »starke Gemeinschaft« in einem »starken Verband«, der eine gute öffentliche Wahrnehmung sowie eine weitreichende Vernetzung hat und die vielfältigen Interessen der Landwirte vertritt. Er berät zur Betriebsnachfolge, im Bereich Freiflächen-Photovoltaik und Windenergie, über die Landwirtschaftliche Sozialversicherung, Anträge und Steuerangelegenheiten. Derzeit wird ein Neubau der Geschäftsstelle zusammen mit dem Maschinenring im Industriegebiet Münsingen geplant.
Günther Felßner, Präsident des Bayerischen Bauernverbandes, hielt das Hauptreferat zum Thema »Vielfältig. Kreativ. Innovativ – Bauernfamilien gestalten Zukunft«. Dabei führte er vor Augen, in welche Richtung die Weichen für die Landwirtschaft gestellt werden müssten. Denn immer mehr Menschen müssen von immer weniger Flächen ernährt werden. Es brauche deshalb einen echten »Green Deal« unter Berücksichtigung von vier Säulen: die Ernährung der Menschen, die Versorgung der Wirtschaft mit regenerativen Energien, die Dekarbonisierung der Wirtschaft durch Einsatz nachwachsender Rohstoffe, sowie den Schutz der Biodiversität und von Boden, Wasser, Luft und Artenvielfalt. »Bauern müssen die Ersten in Sachen Umwelt- und Naturschutz sein«, betonte Felßner. Das setze aber eine multifunktionale Nutzung der Flächen voraus. Der extensive Haltungsgedanke aus dem vergangenen Jahrhundert sei heute gefährlich falsch. »Damals war die Stilllegung von Flächen richtig, weil zu viel Essen vorhanden war.« Jetzt aber müsse aufgrund der drastisch steigenden Bevölkerungszahlen und des Rückgangs vorhandener Flächen der Nutzungsgrad im Rahmen eines biogenen Kreislaufs erhöht werden.
Perspektiven schaffen
Es gehe darum, »enkeltauglich« zu arbeiten und Perspektiven zu schaffen. So etwa durch den Ersatz von schwarzem Kohlenstoff durch grünen. Nur vier Prozent der Erdoberfläche sei gut landwirtschaftlich nutzbar. Anbauflächen müssten deshalb geschützt und mehrfach genutzt werden: für die Ernährung, aber auch zur regenerativen Energieerzeugung, um fossile Energieträger wie Öl und Gas zu ersetzen. Die Landwirtschaft sei bestens dazu geeignet, diese Transformation mitzugestalten, das setze aber ein »neues Denken« mit einem »dauerhaft nachhaltigeren Anbau- und Nutzungssystem« voraus. Doch dazu brauche es auch die Politik.
Wie diese zur Landwirtschaft steht und was sie im Falle einer Wahl vorhat, erläuterten die Kandidaten zur Bundestagswahl Michael Donth (CDU), Pascal Kober (FDP), Sebastian Weigle (SPD), Jaron Immer (Grüne), Michael Jäger (BSW) und Rudolf Grams (AFD) auf dem Podium. Cindy Holmberg (Grüne) und Manuel Hailfinger (CDU) waren als Landtagsabgeordnete bei der Diskussion zugegen. Musikalisch umrahmt wurde die Lichtmesstagung vom Chor der Landfrauen unter Leitung von Sonja Szczyrba. Denn auch die Landfrauen sind ein wesentlicher Zweig des Kreisbauernverbands und sie schaffen es, mit zahlreichen Veranstaltungen, Reisen und Seminaren stets neue Mitglieder zu gewinnen. (GEA)